An der Bushaltestelle, die uns zu den Steinhofgründen bringen soll, liegt eine rote Nelke auf dem Boden. Verloren und ohne Stiel. Es ist recht ruhig. Ob die hier in Massen wohnhaften Angehörigen der Neuen Arbeiterklasse alle im Prater sind, um, wie es sich gehört, Richtung Rathausplatz zu ziehen, heute am 1. Mai, dem Tag der Arbeit?

(c) F. Kührer-Wielach
Im Bus hat man andere Probleme: da steigt einer dem Hund auf den Schwanz, hat sich eh entschuldigt, aber trotzdem, muss das sein, der Schwanz hat doch nur ein Stücki in den Gang geragt, jault Frauli. Und der Hund jault auch, die Mitesserin könnte es nicht besser.
Neben uns spricht ein älterer Herr, freimütig die Lautsprecherfunktion seines Mobiltelefons nutzend, über Sieglinde. Ich weiß nicht, ob es sich bei Sieglinde um seine Frau handelt oder ob er seine bevorzugte Erdapfelsorte für den Salat zum Schnitzel meint. Ich mag zum Beispiel Kipfler besonders gerne, würde meine Frau aber niemals so bezeichnen. (Interessanterweise hat der Kipfler einen eigenen englischen Wikipedia-Eintrag, aber keinen deutschsprachigen.)
HOCH ÜBER WIEN
Wir steigen bei der Feuerwache Steinhof aus und spazieren auf das Gelände der Steinhofgründe, einst zum Otto-Wagner-Spital gehörig, heute ein beliebtes Erholungsgebiet für den Wiener aller Klassen. Da marschieren zwei rüstige Damen mit Wanderstöcken durchs Gelände – „Du, in Teneriffa gibt’s an Golfplatz, dort …“ –, Kinderwägen werden auf Lichtungen geschoben, Picknicks gemacht und American Football gespielt.
Die Jungs und Mädels werfen sich gegenseitig das Schweinsleder und motivierende Kommentare zu. Sprachlich sind sie, wie so viele ihrer Generation, kaum mehr zuzuordnen: sind sie in Wien, München, Köln oder Lauchhammer aufgewachsen? Wer weiß das schon. Fix ist, reden gelernt haben sie mit YouTube und TikTok.
DINGS
Bei einem steinernen Trinkwasserbrunnen liegen drei schöne Erdbeeren, halb im Wasser, halb in der Luft, noch immer leuchtend rot, aber schon ein wenig aufgeweicht.
Wir suchen uns, heute zu viert, einen schönen Platz und schauen ins Gelände. Der größere der kleinen Mitesser fragt mich nach bestimmten Pflanzen und ich erkläre ihm, dass man „Dings“ sagt, wenn man es nicht weiß. Er wird mit seinem Wortschatz später bestimmt einmal herausstechen aus der Generation YouTok.
Eine sanfte Brise weht uns um die Nase. Das exponierte Gelände gewährt je nach Standort des Spaziergängers Weitblick in alle Richtungen: auf die Spittelau ebenso wie auf die Triesterstraße. Am schönsten aber ist der Blick auf den Wienerwald. Drachen steigen in die Luft. Wobei es sich jedoch nicht um die Golferinnen mit den Wanderstöcken handelt.

Landschaft mit Mitessern
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American Football
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Naherholung
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OTTO SCHLÄFT IN DER HÄNGEMATTE
Wir möchten gerne OTTO am Berg besuchen, ein gut beleumundetes Pop-Up beim Pavillon Nr. 24 des Otto Wagner-Spital-Komplexes. Die Geschichte wurde von Max Stiegl und XO-Grill (das sind die, die pensionierte Milchkühe in ihre Smashed Burger stecken) aufgezogen und läuft ziemlich gut.
Nur: laufen tut es nur Freitag, Samstag, Sonntag, wie wir feststellen. Wenn der Tag der Arbeit, Feiertag hin oder her, auf einen Mittwoch fällt, versteckt sich der Burger-Otto offenbar in seinem Berg wie Peer Gynt in seiner Kristallhöhle. Oder so.
Der knallrote Foodtruck ist geschlossen, die Tische und Bänke bleiben leer, die Hängematten ungenutzt. Nur ganz hinten, da schnarcht einer vor sich hin, liegt sozusagen in der asozialen Hängematte. Peer Gynt ist es wohl nicht. Otto am Berg bleibt uns ein Desiderat.

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LOST PLACE UND KLINIKUM IN BETRIEB
Wir flanieren hungrig weiter. Das Gelände des Otto-Wagner-Spitals ist prächtig, eindrucks- und ein wenig geheimnisvoll. Auf der einen Seite ein Lost Place mit vernagelten Fensterscheiben, rostigen Zäunen und ungemähten Wiesen. Andererseits wird ein Teil der Pavillons noch als „Klinikum Penzing“ betrieben. Aber irgendwie ist das alles in Auflösung begriffen.
Die ganze Anlage, die geschmackvolle Architektur, die symmetrische Planung, die großzügigen Grünflächen – all das schreit nach einer baldigen, sinnvollen Nachnutzung. Wer eine solche verzögert und verschleppt, ist wohl selbst Kandidat für „Steinhof“ bzw. die „Baumgartner Höhe“. Im Wienerischen gilt das, zumindest für die Angehörigen des vordigitalen Zeitalters, als der despektierliche, aber eindeutige Code für eine Empfehlung, Patientenkandidat für die Niederösterreichische Landes-Heil- und Pflegeanstalt für Nerven- und Geisteskranke zu werden, wie die Einrichtung bei ihrer Eröffnung 1907 hieß.
GROSSOD DER WIENER SAKRALLANDSCHAFT
Wir laufen also zurück in den grünen Teil des Geländes, vorbei an der großartigen Otto-Wagner-Kirche, St. Leopold am Steinhof, die erste „moderne“ Kirche Europas. Jugendstil. Ein oft übersehenes Großod der Wiener Sakrallandschaft, die wie ein Schlussstein wirkt für diesen riesigen Gebäudekomplex, der Funktionalität und Ästhetik auf ungewohnte Weise verbindet. (Was sich auch im Inneren der Kirche spiegelt, wo Kranke baulich mitgedacht wurden. Inklusion avant la lettre.)
Wegen der goldenen Kuppel nannte der Wiener den Komplex früher auch Zitronenhügel und Zwiebelparlament. Obwohl man von hier weit über die Stadt sieht, reicht der Blick nicht bis zum Rathausplatz.
Im Labyrinth der Waldwege komme ich mir vor wie Guybrush Threepwood, der nach eigener Aussage „mächtige Pirat“ im legendären Grafikadventure Monkey Island. Der musste auf einer Insel herumlaufen, deren Waldwege genauso aussahen wie jene am Steinhof. Nur dass hier keine dreiköpfigen Affen herumlaufen. Heute zumindest.







ROT-WEISS-ROT
Wir stoßen auf ein Artefakt, ein altes Betonfundament, das noch Reste einer gigantischen Verankerungsanlage aufweist. Hier auf der Baumgartner Höhe stand nach dem Zweiten Weltkrieg ein Mittelwellensender, der das von der amerikanischen Armee organisierte Programm Rot-Weiß-Rot ausstrahlte. Noch wenige Jahre zuvor hatte man hier am Spiegelgrund im Dienste der Nazi-„Wissenschaft“ Kinder gequält und getötet. Beim Sender RWR dann konnten Kulturarbeiter eines neueren Österreich ihre ersten Gehversuche machen, unter ihnen Helmut Qualtinger, Jörg Mauthe und Ingeborg Bachmann.
Die Betonfundamente des Senders aber erinnern an jene Zeit, in der es allmählich wieder heller wurde in Wien und in der westlichen Hälfte Europas. Und sie erinnern daran, dass selbst dort, wo wir „Natur“ suchen, allüberall der Mensch gestaltend, waltend, manchmal gewalttätig, eingreift. Naturlandschaft ist in unserer Welt fast immer Kulturlandschaft, auch wenn wir das gerne übersehen. Ob sich allerdings der Mensch die Erde nachhaltig untertan gemacht hat oder aber die Erde irgendwann einmal zum Aufstand ruft, wissen wohl nicht einmal die Revolutionsfachpersonen, die gerade über den Ring ziehen.
IM SCHUTZHAUS ROSENTAL
Wir streben aber zu einem menschlichen Eingriff in die Natur der Baumgartner Höhe hin, der zweifellos auf die Habenseite der Fortschrittsbilanz geschrieben werden muss: das Restaurant Grosses Schutzhaus Rosental. Das scheint sich vertrauensvoll an die Außenmauer des Geländes zu schmiegen und ist schon allein deswegen für uns nicht ganz leicht zu finden.
Als wir angekommen, merken wir, dass wir offenbar die einzigen sind, die das Wirtshaus nicht gleich ausmachen konnten. Wir ergattern den letzten Tisch im großzügigen, terrassenartigen Gastgarten, der zu Recht mit dem „Goldenen Schani 2023“ ausgezeichnet wurde.
SCHWIMMEN LERNEN IN DER SUPPENSCHÜSSEL
Hier geht alles rasch und freundlich, gut und günstig. Neben uns trägt ein Polizist gerade geschätzte 15 Takeaway-Portionen vorbei. Ich nehme an, das ist ein gutes Zeichen. Wir bestellen, was sich in einem Schutzhaus zu bestellen geziemt: Leberknödelsuppe, Griesnockerlsuppe und für mich, weil ich der wildeste Hund im Rudel bin, eine Steinpilz-Erdapfel-Suppe.
Die Suppen werden in diesen notorischen Riesenterrinen serviert, bei denen man nie weiß, wie man die zweite Hälfte der Suppe aus dem Gefäß bekommt, ohne sich kopfüber in das Geschirr zu beugen und die Suppe auszutrinken. Der Kleine hat zum Glück schon den Fahrtenschwimmerschein, sonst würde ich ihn die Suppe nicht ohne Schwimmflügerl essen lassen.
Neben uns sitzt ein Mutter-Sohn-Pärchen. Der Kleine, ich schätze ihn auf Mitte Dreißig, muss unter der strengen Ägide der offenbar fastenden Mutter sein Schnitzel essen. So beunruhigend diese Situation auf sozialer Ebene ist, so sehr überzeugt mich die kulinarische. Ich bestelle mir also ein Schnitzel. Hausgemachter Erdäpfelsalat (keine Kipfler, leider) dazu. Preiselbeeren.
VEGETARISCHE KUCKUCKSEIER?
Endlich, mag sich mancher denken. Wie kann der monatelang in Wien herumlaufen, ohne sich ein Schnitzel zu bestellen? Eh. Die mit mir verheiratete Mitesserin bestellt sich die feminine Version davon, nämlich einen Backhendlsalat, wobei zwei der „Nuggets“ eine sensorische Fehlnote aufweisen. Wir befürchten, dass da eine vegane Variante dazwischengerutscht ist.
Der große der beiden kleinen Mitesser bestellt sich Spaghetti Pomodoro, die ihm recht munden. Die kleine Mitesserin bekommt das Grießnockerl aus Suppe 1, das sie aber nur so lange ansieht, bis sie das Leberknödel aus Suppe 2 angeboten bekommt.
Dieses schiebt sie wiederum beiseite, sobald sie mein Schnitzel erspäht. Wir haben ihr das nicht gelernt, ich schwöre, wir essen regelmäßig vegetarisch. Letztlich gibt sie sich mit einem Stück Backhendl zufrieden, dass man ihr aber nicht schneiden darf und das sie wie einen Apfel in der Hand hält. Mit viereinhalb Zähnen kann man das schon selbst beißen.

(c) F. Kührer-Wielach

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Kosten: EUR 73 inkl. angemessenem Trinkgeld.
BENOTUNG
Geschmack: 3,5 von 5 Kipfler
Atmosphäre: 4 von 5 Schanigartenpreisplaketten
Kulinarische Kakanizität: Leberknödel. Grießnockerl. Schnitzel. Noch Fragen?
Soziokult: Mundl, Mama und Michelle
Toilette: nun mit zu lauter Musik, da sich die Regler dafür gleich neben dem Wickeltisch befinden
Auf dem Rückweg finden wir eine ehemalige Telefonzelle, die zu einem öffentlichen Bücherschrank umgebaut wurde. Sie strahlt jetzt im Müllabfuhrorange. „Dieses Telefon kann lesen retten“ steht da drauf.
Wir nehmen Astrid Lindgren mit und: Heimat. Ein Lesebuch, das die Crème der deutschsprachigen Literatur versammelt. Ingeborg Bachmann ist mit „Jugend in einer österreichischen Stadt“ vertreten. Aber ich glaube, da geht es nicht um Wien, sondern um … Dings.
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