
(c) F. Kührer-Wielach
Von der Lugner-City Richtung Schmelz spazierend fällt gleich nach dem Vogelweidpark eine Front von mächtigen Häusern ins Auge. Hier beginnt das Nibelungenviertel. Die repräsentative Architektur dieser Ecke ist eigentlich dafür konzipiert, um von Weitem sichtbar zu sein. Hier befand sich noch bis 1911 eine Freifläche, die als Parade- und Exerzierplatz diente. Die Restschmelz heute ist ja eine Kleingartensiedlung.
DIE ALTE SCHMELZ
Damals gab dann auch jedes Jahr eine unterhaltsame Parade für den Kaiser. Mit Soldaten in damals schon unzeitgemäßen, aber hübschen Uniformen – eine Augenweide. Nach der verheerenden und zeitenwendendenden Niederlage von Königgrätz 1866 soll Franz Josef I. dann furchtbar enttäuscht gewesen sein. Habe es doch auf der Schmelz immer so schön funktioniert, das Üben für den Krieg. Und sein 1848 abgedankter Onkel, Ferdinand I., Kaiser a.D., ätzte aus dem böhmischen Exil: „Na, des hätt’ i a noch z’sammbracht!“. Ein Satz, der mir sehr oft auf der Zunge liegt.
GAME OF NIBELUNGEN
Mittelalter-Storys waren seit dem 19. Jahrhundert ziemlich in Mode, als sich die Architekten nun endlich austoben durften in dieser unverbauten Ecke Wiens. Darum heißen die Straßenzüge in diesem Teil von Neufünfhaus größtenteils nach dem Cast der Nibelungensage: Dankwart-, Hagen-, Gernot-, Giselher- und Walkürengasse, Tannhäuser- und Kriemhildplatz etc.
Heute würde man wahrscheinlich andere große Geschichten heranziehen, um das Volk bei wenigsten schlechter Laune zu halten. (Für Wien ohnehin die Standardgemütsverfassung.) Aber noch hatte keiner den Mut, ein neues Stadtviertel nach den Helden von Game of Thrones zu benennen. Man stelle sich vor: gleich hinter der Jon Snow-Straße würde sich der prachtvolle Daenerys Targaryen-Platz öffnen. Und weiter hinten, da könnte man durch das dunkel-siffige Tyrion Lannister-Gassl schlüpfen, um vor dem viel zu großen Joffrey Baratheon-Hof zum Stehen zu kommen, einem typischen Gemeindebau, wie er einst in allen großen Städten von Westeros gebaut wurde…
VERSUCH EINES STÄNDESTADTVIERTELS
…aber nix da, hier in Neufünfhaus herrschen die Nibelungen. Aber sie herrschen nicht allein. Denn an der Kreuzung der zwei wichtigsten, boulevardartigen Schlagadern des Viertels, der Markgraf-Rüdiger-Straße und dem Kriemhildplatz, verweist das Ensemble der Christkönigkirche auf andere – mitunter auch recht mythische – Bewandtnisse.
Wenig weiß man heute von diesen, wenn man nicht zufällig in der Gegend wohnt und sich zufällig für Sakralbauten interessiert oder gar noch Kirchgänger ist. Und doch war diese Kirche in einem Moment der Kristallisationspunkt des bürgerlichen Gegenwien der Zwischenkriegszeit.
IGNAZ UND ENGELBERT
Wer sich wie wir ein wenig auf diesen Ort einlässt, den scheint für einen Augenblick sogar der Geist des autoritären Ständestaates zu umwehen, wie er von Engelbert Dollfuss im Jahr 1934 errichtet wurde. Da ist diese Kirche gerade erst fertig geworden, als Ignaz-Seipel-Gedächtniskirche konzipiert. Der Altbundeskanzler und Prälat, der aus dieser Ecke Wiens stammte, und 1932 verstorben war, sollte hier seinen Gedächtnisort inklusive Grablege bekommen.
Außerdem wollte die katholische Kirche auch stärker in den seelsorglich-sozial unterversorgten Arbeiterbezirken aktiv werden. Hier im Nibelungenviertel war noch Platz für solche Baumaßnahmen. Und Arbeiter gab es auch genug, nicht zuletzt wegen der hier ansässigen Bally-Schuhfabrik.

Im Inneren der Christkönig-Kirche
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Gedenken an Hildegard Burjan
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Seipel-Dollfuß-Gedächtniskirche genannt
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CLEMENS UND HILDEGARD
Geplant wurde die Kirche mitsamt „Volksfürsorgehaus“ vom Star- und Staatsarchitekten Clemens Holzmeister, dessen Planungen mich stets an eine Mischung aus Mussolini-Stil und rumänischem Bezirkskrankenhaus erinnern. Aber ich davon ja keine Ahnung.
Hinter dem Projekt stand die christlich-soziale Politikerin Hildegard Burjan, eine jüdische Konvertitin aus Schlesien, die wie wenige in ihrer Partei für die Gleichberechtigung der Frauen gekämpft hat. Als Wegbereiterin der modernen Sozialarbeit wirkte sie nicht nur für bessere Lebensbedingungen der Unterprivilegieren, sondern als Gründerin der Caritas Socialis auch für ein würdiges Sterben. Das autoritäre Durchgreifen ihres Freundeskreises rund um Engelbert Dollfuß erlebte sie nicht mehr, sie starb 1933.
IM SCHMELZWASSER DER DONAUMONARCHIE
Im Jahr darauf sollte Ignaz Seipel in seiner postnibelungischen Grablege Gesellschaft bekommen: Nachdem Engelbert Dollfuß von illegalen Nationalsozialisten erschossen worden war, fand auch er seine letzte – nein: vorletzte – Ruhestätte in der Krypta der Christkönigskirche. Etwas mehr als ein Jahr, nachdem er persönlich den Grundstein für diese Kirche gelegt hatte. Und nur ein paar Monate nach Gründung seiner Kanzlerdiktatur mit faschistischen Anleihen, eine Gesellschaft, schlotternd und zitternd, bis zu den Knien im eisigen Schmelzwasser der Donaumonarchie stehend.
So wurde diese eher unscheinbare Kirche für ein paar Jahre zu einem Epizentrum der dramatischen Geschichte der Ersten Republik. Eine Geschichte des Scheiterns. Es hatte sich als Illusion herausgestellt, den großen Brand mit einem Lagerfeuer bekämpfen zu wollen.
1939 wurde die Grablege von den Nazis aufgelöst, die beiden Leichname auf andere Friedhöfe verbracht, wo sie nun wohl letztgültig ruhen.
DAS ROTE WIEN IM (EIN BISSL) SCHWARZEN GRÄTZL

Foto: Martin Gerlach / CC BY-NC-ND 4.0
Als wir die Kirche verlassen und uns auf dem nach Hildegard Burjan benannten Platz umsehen, wird uns bewusst, dass hier neben den Nibelungen und den Ständestaatlern auch noch andere Geister ihre Wesen treiben.
Rechts das Café Krimhild, an der linken Flanke der mächtige Johann Witzmann-Hof. Ein typischer Gemeindebau des Roten Wien, 1926/27 erbaut, später nach dem Arbeiterführer Witzmann benannt. Ein Mann mit klassischer Aufstiegsgeschichte: der Papa Seidenweber, er selbst gelernter Taschner, später leitender Angestellter bei der Konsumgenossenschaft. Gemeinderat 1919–1932.
Der Architekt hat sich aber offensichtlich bemüht, seine Arbeiterburg nicht als trotzigen Fremdkörper zu positionieren, wie dies im Roten Wien oft der Fall war. Vielmehr fügt sie sich, ohne den Stil und die Absichten des Sozialen Wohnbaus zu verraten, souverän in das Ensemble aus „Edelzinshäusern“ der Vorkriegszeit und der tendenziell anspruchsvollen, freilich schlichteren Architektur der Zwanzigerjahre. Fast schon bürgerlich. Witzmann, schau owa! (Oder auffa, wer weiß das schon sicher.)
RELIKTE
Wir drehen eine Runde auf dem Burian-Platz, geraten immer tiefer in den historischen Sog dieses Ortes, den er erst auf den zweiten Blick, aber unhintergehbar entfaltet. Vor uns tauchen Artefakte einer mythischen Zeit auf: ein Sarkophag, ein Eisenkreuz, eine Grabsäule mit Urne, ein Steingrab, eine Tabernakelsäule. Sind wir tatsächlich in einem der sieben Königslande von Westeros gelandet? Was geschieht hier?
Seien Sie beruhigt: Es handelt sich um Relikte des alten Schmelzer Friedhofs, der sich bis vor circa hundert Jahren ungefähr dort befunden hat, wo heute die Stadthalle steht. Unvergessen hier ein Konzert von David Hasselhoff. Selbst so eine Art Relikt, hat er ambitioniert wie damals in den großen Wendezeiten der späten Achtzigerjahre sein bestes gegeben.

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Looking for freedom! Stünde da nicht die Lugner-City, sondern die große Mauer von Westeros – Night Rider würde sie gnadenlos umsingen, um Fünfhaus endlich mit dem Brilliantengrund zu vereinen. Manchmal steht da am Gürtel sogar ein Popup-Schwimmbad, da kann er sich dann sommers als Bademeister verdingen.
IST DAS HOLODECK KAPUTT?
Zurück in die Geschichte: Um die Christkönigskirche herum hat man also ein paar Erinnerungsstücke des Schmelzer Kommunalfriedhofs platziert. Wir nehmen uns die Zeit, diese steinernen Relikte näher zu betrachten. Die neogotischen Artefakte ragen wie Fehlleistungen des Raum-Zeit-Kontinuums in unsere Gegenwart. Als hätte das Holodeck-Programm eine Störung.
Mir ist, als würde ich ein sachtes, allmählich immer lauter werdendes Ächzen, Klagen und Jammern hören. Ist es das Lied von Eis und Feuer? Weniger. Aber viel mehr die Unmutsbekundung der Mitesserin, die offenbar Hunger bekommen hat.
WIR WECHSELN DEN QUADRANTEN
Wir machen uns also besser auf die Suche nach einer geeigneten Labstelle. Die finden wir im Restaurant Galaxie am unteren Ende der nahegelegenen Märzstraße. Spätestens als wir das Etablissement betreten, wird uns klar, dass wir gerade den Quadranten gewechselt haben. Eine andere Welt tut sich uns auf, nur wenige Schritte von Kriemhild, Witzmann und Engelbert entfernt.
Balkanküche ist hier das Thema, und das seit mehr als drei Jahrzehnten. Wer zurückrechnet, kann sich vorstellen, welche kriegsbedingten Fluchtbewegungen möglicherweise zur Eröffnung des Restaurants geführt haben. Ein kleines Glück im großen, sich wiederholenden Unglück unseres Erdteils. Bosnische, kroatische, mazedonische und ungarische Küchenkulturen finden hier zusammen.
OHNE HATSCHEK UND HAXEN
Für uns ist schnell ein Platz gefunden, wir werden Ćevapčići bestellen. (Ja, so heißen die hier auf der Karte, obwohl die Profis behaupten, man muss die Ćevapi nennen, um nicht unangenehm aufzufallen. Ćevapčići sagen nur die Touristen. Aber da steht sogar Cevapcici, ganz ohne Hatscheks und Haxen, wahrscheinlich, damit sich die Falstaff-Leser nicht fürchten muss beim Bestellen.)
Ich ordere also Cevap… und huste verlegen, statt die letzte Silbe auszusprechen. Ich will die in Kaymak eingelegte Version. Dazu gibt es warmes, rauchiges Brot, einen Teller Grillgemüse (mit obligatem Karottenschnipsel) und aus Neugier bestelle ich noch eine Portion Uštipci, mir bislang unbekannte bosnische Brötchen. Zum Trinken? Cola, denn das ist hier offenbar das Standardgetränk des Stammpublikums.
EIN HAUCH VON SOMMERURLAUB
Es wird mitunter Deutsch gesprochen, aber der Standard ist das nicht: hier ist es vor allem das Südslawische, zumal das Bosnische, das dominiert. Überhaupt fühle ich mich schon wieder ein wenig durch Raum und Zeit geschossen, trotz der modernen Einrichtung. Die südslawische Exilgastronomie mit ihren Speisen, ihrem Geruch und ihrem Sound, dem Habitus der Kellner (und auch dem der der Gäste) – das hat immer einen Hauch von sommerlicher Melancholie. Und einen Hauch von Zwiebel.
Kurzum: Ganz dazugehören tun wir nicht, sind aber herzlich willkommen. So wie die zwei Asiatinnen hinter mir, die Briten ein paar Tische weiter und der Mann, der auf sich auf dem Klo ins Waschbecken schneuzt. (Dort gibt es keine Papierhandtücher, sondern nur einen Händetrockner, den kann er dafür wirklich nicht gebrauchen.)
POSTJUGOSCHLAWIENER
Hier ist was los, die Mitesserin kann sich kaum sattsehen am geschäftigen Treiben: ein Kommen und Gehen, die obligate Fleischtheke mit Plastikgemüse garniert, alle sind gleichzeitig hektisch und langsam, die Bedienung souverän, freundlich, teils verbindlich, mit einer ganz leichten passiv-aggressiven Unterton, der das Postjugoslawische und das Wienerisch nicht ganz zufällig auf einen Nenner bringt. Postjugoschlawienerisch halt.
Der Teller mit den Cevapci*hust im Kaymak sieht aus, als wäre er dem Koch und dann auch dem Kellner jeweils mindesten einmal aus der Hand geglitten. Dies tut dem kulinarischen Vergnügen, die eingelegte Version der kleinen Fleischwalzen zu verspeisen, jedoch keinen Abbruch. Ich bin froh über diesen Tipp, den ich von einem Sänger bekommen habe, der in Köln und Essen (ja, hihi) mitunter auch die Nibelungen von der Opernbühne schmettert.

(c) F. Kührer-Wielach

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Uštipci im Großformat, auch am nächsten Tag noch saftig.
Selbst die Steinplatte wird von Fett noch durchsichtig.
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SCONES AUF BOSNISCH
Auch die Mitesserin fühlt sich von den Kaymak-Cevapcici kulinarisch angesprochen. Als jedoch ein paar Minuten später die Uštipci serviert werden, brechen die Dämme: schon allein optisch sind die vier riesigen, in Öl herausgebackenen Teigbrötchen eine Sensation. Äußerlich resch, innen großporig und trotzdem von feiner Textur.
In Ost-Südost wird Teig gerne mit Natron getrieben, ich meine aber Germ zu schmecken. Dazu eine eiskugelgroße Portion frischkäseartigen, gewiss wieder mit Kaymak versetzten Aufstrichs, in den sich die Mitesserin derartig verliebt, dass sie die kleine Schüssel, bald mit beiden Händen zugreifend, bis zum letzten Bissen leert. Eine bosnische Version von Scones quasi, mit Kaymak statt Clotted Cream.
Wir essen das Fleisch zusammen und lassen ein bisschen vom Gemüse übrig. Man will ja nicht für seltsam gehalten werden. Hier in dieser speziellen Galaxie. Zwei der vier Uštipci schaffen wir beim besten Willen nicht mehr. Die werden uns in einem Papiersackerl für zuhause mitgegeben.
BENOTUNG
Geschmack: 4 von 5 Fleischtigerstreifen
Atmosphäre: 4 von 5 Blingblingelinge
Kulinarische Kakanizität: 4 von 5, freilich eher postkakanisch und noch viel mehr postjugoslawisch (was sich alles nicht unbedingt widerspricht)
Soziokult: Little Sarajevo and friends
Toilette: bis auf den schneuzenden Mann in Ordnung
Kosten: 33 Euro inklusive Trinkgeld.
„Come again“ scheint uns John Dowland über die Jahrhunderte hinweg zuzuraunen, als wir auf dem Heimweg noch einmal das Nibelungenviertel queren. Das Papiersackerl mit den Uštipci aber hat in der Zwischenzeit von braun auf durchsichtig gewechselt.
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