DIE MITTE


seiten von florian kührer-wielach

Mödling in Mitteleuropa – ein Spaziergang mit Anton, Restituta und Mitsuko

Mein Vortrag (bzw. meine „Story“) im Rahmen des Jubiläumsprogramms  zu „150 Jahre Stadt Mödling“ am 9. Oktober 2025 beim Heurigen Pferschy-Seper auf Einladung der Franzensburg Mödling.

150 Jahre Stadt Mödling also. Und dann noch die anderen magischen Zahlen: 80 Jahre Befreiung und Kriegsende, 70 Jahre Unabhängigkeit und Staatsvertrag, 30 Jahre seit dem Beitritt zur Europäischen Union.

Hinter uns: Die großen Katastrophen und Wunder des 20. Jahrhunderts, die Stürme, die über Europa, von Mitteleuropa ausgehend, über die Welt gefegt sind. Zwei Weltkriege, der Riss, der durch den Kontinent ging. Das Ringen um eine österreichische, dann um eine europäische Identität. Die Eroberung des Weltraums, der Fall des Eisernen Vorhangs, das Zusammenwachsen Europas, der 11. September 2001, der 24. Februar 2022, der 7. Oktober 2023, Künstliche Intelligenz und natürliche Dummheit. Es raubt einem den Atem, aber all das kriege ich schon irgendwie zusammen, kann es „kontextualisieren“, wie man so schön sagt. Aber bitte, meine sehr geehrten Damen und Herren, wer um alles in der Welt erklärt mir Mödling?

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Ich will ja den Zuhörern reinen Wein einschenken und gleichzeitig ein bisschen von der Geschichte dieser Stadt, dieses Landes, dieses Erdteils illuminieren. Und wo illuminiert es sich besser als beim Heurigen?

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Dorthin begebe ich mich also, setze mich an einen Tisch und lasse mir ein Glas vom Grünen bringen. Über 300 Jahre gibt es das Weingut schon. Das passt schon einmal gut, immerhin ist es damit mindestens doppelt so alt, wie Mödling als Stadt besteht.

Gegründet 1718. Im selben Jahr sollte der Frieden von Passarowitz den 6. Österreichischen Türkenkrieg beenden. Mit den Unterschriften Karls VI., Venedigs und des Sultans Ahmed III. trat das Osmanische Reich das Temescher Banat, Oltenien – die sogenannte Kleine Walachei – den Norden Serbiens und ein Stückchen Bosniens an die Habsburger ab.

Und während also das Weingut, auf dem wir heute zu Gast sein dürfen, den Grundstein für bis heute währenden Aufstieg und Ausbau legte, sollte das habsburgische Österreich seinen Höhepunkt erreichen: niemals zuvor und auch nicht danach hatte es eine größere territoriale Ausdehnung.

Freilich hatte Karl V., dreihundert Jahre früher, ein Reich, in dem die Sonne nie unterging – aber da waren die spanische und die österreichische Linie der Habsburger noch nicht getrennt.

Wie auch immer: Zwei Jahrhunderte nach dem Frieden Passarowitz (und der Gründung dieses Weinguts), im Herbst des Jahres 1918, sollte das Habsburgerreich Geschichte sein – und der Kampf um eine neue, nun republikanische österreichische Identität beginnen.

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Dazwischen lagen aber noch 200 bewegte Jahre, die das Angesicht, aber auch die Seele Europas grundlegend ändern sollten. Gleichzeitig entstand vieles, das später ins republikanische Österreich mit hinübergenommen – und manchmal auch erst wiederbelebt werden sollte.

Maria Theresias Wirken, das weit in alle Richtungen strahlte, so auch mit dem Landesausbau die Donau hinab. Aufgeklärt und katholisch war sie, und so sind ja irgendwie die Österreicher bis heute, nicht wahr?

So katholisch wie Maria Theresia vielleicht nicht, die gütige Landesmutter, die dann sicherheitshalber die Juden aus Prag und am liebsten gleich aus ganz Böhmen hätte vertreiben lassen.

Und die Geheimprotestanten aus Oberösterreich, Salzburg und Kärnten nach Siebenbürgen deportieren ließ. Weil dort ohnehin schon Protestanten waren, Siebenbürger Deutsche, die den lutherischen Glauben angenommen hatten. Schrecklicherweise waren sie aber zu viele, zu stark und auch zu nützlich, deswegen hatte man sie behalten.

Und schickte ihnen nun auch noch die sogenannten Landler. Das war besser, als sie als Untertanen zu verlieren. Und im Großfürstentum Siebenbürgen waren sie wenigstens weit genug weg, um keinen schlechten Einfluss auf das konfessionell unzuverlässige Volk der Österreicher auszuüben. Und naja, alle wurden ohnehin nicht deportiert, die Kinder nahm man ihnen vorher weg, um sie katholisch zu machen.

Und jetzt wissen wir, warum es Siebenbürger Sachsen nicht als Kompliment meinen, wenn sie heutzutage zu dir sagen: „Du machst mich noch ganz katholisch…“.

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So waren sie, die Österreicher, aufgeklärt und gläubig, aber auch grausam und pragmatisch.

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Pragmatisch genug auch, um sich ein eigenes Kaiserreich zu organisieren, als sich abzeichnete, dass das nichts mehr werden sollte mit dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Nachdem Napoleon den Kontinent mit seinen radikal-aufklärerischen Vorstellungen beglückt hatte. Ein Glück, das er offenbar auf dem Schlachtfeld suchte. Und es am Ende auch fand, in Waterloo.

So schien mit dem Wiener Kongress 1814/15 nun also nicht nur die Mitte Europas befriedet, sondern endlich auch in Ost-Südost und im Westen Ruhe zu herrschen: Der kranke Mann am Bosporus, aber auch das postnapoleonische Frankreich schienen zunehmend mit sich selbst beschäftigt. Und das orthodoxe Russland wurde wie das protestantische Preußen Teil einer Heiligen Allianz mit dem katholischen Habsburgerreich: Auf christlichen Grundlagen sollte der Frieden in Europa gesichert werden. Der Kongress tanzte nicht nur, er betete auch gelegentlich, und das immerhin auf drei unterschiedliche konfessionelle Weisen.

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Mit dem Heiligen Römischen Reich hatte man aber schon 1806 Schluss gemacht. Über Jahrhunderte waren es meistens Habsburger gewesen, die die römisch-deutsche Kaiserwürde innehatten. Oft war das keine sehr machtvolle Position, aber es gab schicke, steinalte, goldene Reichsinsignien und immerhin waren wir Kaiser über ein riesiges Reich der europäischen Mitte.

So war auch während Napoleons Wüten ein habsburg-lothringischer Kaiser im Amt. Nur war dieses römisch-deutsche Kaisertum eben schwach und morsch und die Gefahr groß, dass die Krone in Napoleons Hände fiel. Damit das mit dem Kaisersein aber erhalten blieb, macht sich Franz der Zweite, in der Zählung des alten Reiches, zu Franz, den Ersten, nämlich von Österreich. So wurde die Donaumonarchie geboren.

Doch kam sie nicht als Säugling zur Welt, sondern eher wie ein Geschöpf des legendären Dr. Frankenstein. Denn die Teile gab es längst, als Kronländer der Habsburger, der Casa Austria. Die nun das „Kaiserthum Oesterreich“bildeten.

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Ein Reich also, das mit rund 700.000 km² das zweitgrößte Territorium Europas nach dem Zarenreich einnahm und mit 21 Millionen Einwohnern auf Platz drei nach Russland und Frankreich lag. Ein Reich, auf das Franz Grillparzer seine legendären Zeilen projizieren sollte:

„Er ist ein guter Herr, es ist ein gutes Land,
wohl wert, dass sich ein Fürst sein unterwinde!
Schaut rings umher, wohin der Blick sich wendet,
Wo habt ihr dessengleichen schon gesehen?“

Vom Wiesengrün wird er sprechen, vom Silberband der Donau und Hügeln voller Wein, von Jagdlust im dunklen Wald, vom wangenroten Jüngling Österreich, der gut machen möge, „was andere verdarben“.

Grillparzer dichtet diese Zeilen mitten in die Biedermeierzeit, in die Zeit Metternichs, wo Frieden war auf dem Kontinent, und wo Ruhe herrschen sollte im Lande. Und wo es doch brodelte unter allen Decken und Deckeln. Weil die Ruhe mit Unfreiheit erkauft wurde.

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– Sehr geehrte Damen und Herren, Sie merken es schon, wir sind also nun auch mentalitätsmäßig im Österreichischen angelangt. –

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Und auf dem Heldenplatz, da stehen heute zwei Reiterstatuen, die die Vorgeschichte dieses Österreichs erzählen sollen. Prinz Eugen, der für die Eroberung des Südostens und die Osmanenkriege steht, und Erzherzog Karl, der mit der Schlacht bei Aspern als erster siegreich über Napoleon war.

Als die beiden Denkmäler errichtet wurden, in den 1860er-Jahren, war die Heilige Allianz längst zerbrochen, und Österreich führte Krieg gegen Preußen. Mit „Königgrätz“ endeten alle Bemühungen, dass sich Berlin und Wien die Beherrschung Mitteleuropas aufteilten. – Der Druck auf das Kaiserthum Österreich nahm zu, er kam gleichzeitig von innen und außen.

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Und als Mödling 1875 zur Stadt erhoben wurde, hatte Grillparzers „gutes Land“ sein politisches Antlitz wieder einmal völlig verändert: Ungarn wollte sich nicht länger unterwerfen, mit der Doppelmonarchie musste ein Ausgleich geschaffen werden: Österreich und Ungarn, nun zwei Staaten, die sich ein Oberhaupt teilen: Kaiser und König.

Der schmale Leithafluss bekam eine Bedeutung, die er sich wohl selbst nie erträumt hatte: Drüben übernahm ein königlicher ungarischer Zentralstaat; hüben war nun Cisleithanien bzw. … Österreich. Oder wie man es korrekt nannte: die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder.

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In ebendiesem Reichsrat in Wien saß auch ein gewisser Josef Schöffel, ein in der böhmischen Bergbaustadt Pribram geborener Journalist. Er gilt – wie die Mödlinger und überhaupt alle Österreicher von Welt wissen – als Retter des Wienerwaldes. Ein Viertel des Baumbestandes war an einen Holzindustriellen verkauft worden, um ihn zu schlägern. „Viertel unter dem Wienerwald“ hätte damit eine andere Bedeutung bekommen.

Schöffel aber hat mit einer journalistischen Kampagne letztlich verhindert, dass der Wald verschwindet. Beliebt hat er sich damit nicht gemacht, und man munkelte, dass ein Jäger, der ihn „versehentlich“ erschösse, mit keinerlei Strafen zu rechnen habe.

Was lernen wir daraus?

Erstens: Grillparzers Loblied hätte nur mehr zum Teil funktioniert: die Jagdlust hätte sich bestätigt, nur der „dunkle Wald“, der wäre viel zu licht geworden. Und:

Und zweitens: Journalismus ist wie eine Waffe: Nicht diese selbst ist schuld – viel mehr es kommt drauf an, wer sie benutzt. Und wofür.

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Schöffel aber war nicht nur Abgeordneter, sondern auch Bürgermeister von Mödling. Und kämpfte nicht nur die Stadterhebung durch, sondern trug insgesamt zum Aus- und Aufbau seiner jungen Stadt bei. Und: Er gründete mit seinem Freund, dem Mediziner Josef Hyrtl, ein Waisenhaus.

Oder besser gesagt gründete er es mit dem Geld seines Freundes, denn der war zu diesem Zeitpunkt schon tot und hatte sein verwaistes Vermögen für wohltätige Zwecke vorgesehen.

Berühmtester Zögling des Hyrtlschen Waisenhauses aber war Josef Weinheber. Was uns nicht nur in unserer Geschichte vorwärtsbringt, sondern uns irgendwie auch wieder an den Heurigentisch zurückführt.

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Gerade als ich mich umdrehe, um noch ein Glas vom Grünen zu bestellen, spricht mich ein freundlich blickender, distinguierter Herr vom Nebentisch her an. Ob er mir denn behilflich sein könne, bei meiner Suche, fragt er mich. Das käme ein wenig darauf an, was ich denn suche, antworte ich.

Der Herr im schwarzen Dreiteiler mit dem zurückgekämmten Haar auf dem etwas eckigen Kopf blickt mir direkt in die Augen und zieht an seiner Pfeife, bevor er antwortet. Ich denke, Sie suchen dasselbe wie ich. Und das wäre? Na, Österreich, nicht wahr?

Wohl wahr, denke ich mir, und bitte den Mann an meinen Tisch. Er stellt sich mit Anton vor, Anton Wildgans, aber ich könne ihn Anton nennen. Und er fände es schon seltsam, dass ich ganz offensichtlich nicht wisse, wer er sei. Wo er doch so viel Zeit in Mödling verbrächte, und das schon seit Jahren.

Tja, sage ich nur, und: Doch, doch, ich hätte ihn schon erkannt, aber halt nicht damit gerechnet, dass er hier beim Heurigen zu finden sei, weil er doch bekanntlich so viel zu tun habe in seiner Tätigkeit.

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– Wenn ich doch nur wüsste, was denn diese Tätigkeit wäre, denke ich mir, und lächle ihn freundlich an. –

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Ob mir sein Programm gefallen habe, damals, vor ein paar Jahren, als er dieses bedeutende Haus am Ring geleitet habe. Ich ginge doch regelmäßig ins Burgtheater, nicht wahr?

Sehr freundlich, wie der Herr mir dezent auf die Sprünge helfen will, aber ich springe nur bedingt. Umso besser, dass er sich kurz für einen einfachen Gang, den auch der Kaiser zu Fuß antreten würde, entschuldigt und ich rasch nach dem Namen Anton Wildgans googeln kann.

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Ach so, der! 1881 in Wien geboren, Lyriker, Dramatiker steht da. Und zweimal Direktor des Burgtheaters, steht da. Und: für den Literaturnobelpreis nominiert. Wow. Nicht schlecht.

Aber so richtig auf dem Radar hatte ich ihn nicht, und mir kommt vor, damit bin ich heutzutage nicht allein. Ganz ähnlich scheint es mit Albert Drach zu sein, den er ermutigt hat, seine literarischen Ambitionen auszuleben. Und wie sein Mentor sollte auch Drach für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen werden. Und wie sie beide Wiener Mödlinger oder Mödlinger Wiener waren, so sollte ihnen beiden der Preis nicht vergönnt sein. Und allmählich vom literarischen Radar verschwinden.

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Trotzdem, irgendetwas kann da bei Wildgans nicht stimmen: Auf Wikipedia steht, dass er zweimal Direktor des Burgtheaters gewesen sei, in den Jahren 1921/22 und noch einmal 1930/31. Er sprach jedoch nur von einem Mal.

Mein Blick fällt auf das Handydisplay, aus irgendwelchen Gründen hat es auf Schwarz-Weiß umgeschaltet. Das Datum, das angezeigt wird, lautet auf den 9. Oktober … 1925. – Heute ist zwar heute, aber offenbar heute vor 100 Jahren. Mein Gegenüber, der in diesem Moment so wie ein Kaiser zu Fuß vom Klo zurückkehrt, hat seine zweite Burgtheater-Direktion also erst vor sich.

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Wissen Sie, sagt er zu mir, während er sich wieder an den Tisch setzt und nach einem Kellner winkt, das ist ein schwieriges Jahr. Immer wieder kracht es, diese neumodische Bewegung aus München gibt keine Ruhe, und die Arbeiter halten dagegen. Erst vor wenigen Monaten haben die Faschisten hier den Müller Leopold derartig verprügelt, dass er dann im Krankenhaus starb.

Den Trauermarsch hätten Sie sehen sollen! Die sind von Mödling über Brunn und Liesing bis ins Favoritner Arbeiterheim gezogen. Alle wichtigen Roten waren mit von der Partie: Otto Bauer hat gesprochen, und der Bürgermeister Seitz. Sogar der Renner hat eine Trauerrede gehalten.

In welchen Zeiten wir leben. Zuerst stirbt der Kaiser, dann löst sich das alte Österreich auf. Aber was uns geblieben ist, da steckt noch so viel drinnen von der alten Zeit. Und wissen Sie – er legt seine Hand auf meinen Unterarm, sein Blick aber geht an meinem Gesicht vorbei – ich glaube, bald wird alles besser werden. Europa wird zu Ruhe kommen, denn niemand will einen nächsten großen Krieg. In Locarno haben sie Deutschland den Beitritt zum Völkerbund erlaubt, und wenn die dabei sind, dann wird sich die Welt schon wieder einkriegen.

Und unser kleines Österreich genauso. Man muss den Österreichern nur beibringen, auf welch großes Erbe sie bauen können, dann hören auch die permanenten Anschlussforderungen an Deutschland wieder auf. Irgendwie scheinen gerade alle ganz versessen darauf zu sein, egal ob wir von den Nationalen, den Christlich-Sozialen oder den Sozialdemokraten reden. Und diese Nationalsozialisten sowieso, die träumen vom Dritten Reich. Aber das lässt sich alles in den Griff kriegen.

Ihr Wort in Gottes Ohr, murmle ich über den Tisch, mehr fällt mir nicht ein.

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Mein Blick fällt auf den Abreißkalender, den der Heurigenwirt an die Lamperie genagelt hat. Es ist immer noch der 9. Oktober 1925. In nicht einmal fünf Jahren wird Anton Wildgans seine danach vielzitierte „Rede über Österreich“ im Rundfunk verlesen. Wie kaum ein anderer Vertreter der Elite im Zwischenkriegsösterreich wird er darin seine Überzeugung darlegen, dass Österreich und die Österreicher einen besonderen Auftrag haben, den sie nur als eigenständiges Land bzw. Volk erfüllen könnten. Ein Land, so formulierte er es,

„welches nur mehr ein kleiner Teil jenes großen Reiches ist, das noch vor etwas mehr als einem Jahrzehnte die geographische Mitte unseres Weltteiles bildete. In seinem Westen berührte dieses jahrhundertealte Staatsgebilde die Gewässer des Bodensees, gegen Nordosten und gegen den Aufgang zu grenzten seine Gebirge, sein Steppen- und Ackerland an jene Gebiete Europas, welche die Vorlande Asiens bilden, während der Süden des Reiches über Alpen und Karst hinabreichte, einerseits bis zu den Lorbeer und Ölbaum spiegelnden Buchten des Gardasees und andererseits bis an die blauen Fluten des Adriatischen Meeres.

Dieser mächtigen räumlichen Ausdehnung entsprach die geradezu phantastische Vielfalt der Völkerstämme, die das versunkene Reich bewohnten. Es waren dies Slawen, Romanen, Magyaren, und von den Slawen hinwiederum: Tschechen, Polen, Slowaken, Kroaten, Slowenen und Serben. In den Gebieten des äußersten Nordostens siedelten Kleinrussen und Rumänen; dort, wo die Grenzen des Reiches südwärts vorgeschoben waren bis in die Berg‘ und Küstenlande des Balkans, hausten Dalmatiner, Bosnier und Herzegowiner; in den Herzlanden dieses gewaltigen Völkerreiches aber – und wohl auch sonst die andersvölkischen Sprachgebiete vielfach durchsetzend – hielten Deutsche an der Erde fest, die ihnen seit mehr als einem Jahrtausend die Heimat bedeutete.“

Den Untergang dieses Nationalitätenstaates sah er nicht als unaufhaltsam an. Als „Schwerthelfer des Germanentums“ aber sollte Österreich nicht mehr dienen.

Wien aber sei neben Rom, London und Paris eine europäische Weltstadt gewesen: „Und in ihr, aber auch sonst in Österreich, unter den Ausstrahlungen ihres politischen und kulturellen Lebens, bildete sich im Laufe der Jahrhunderte ein Typus heraus, den ich am liebsten bezeichnen möchte als den österreichischen Menschen.“

Mit dem Österreicher, wie er ihm in der Zwischenkriegszeit begegnete, meinte Wildgans, der Epoche entsprechend, den „Deutschösterreicher“, der jedoch stets Minderheit geblieben sei im Vielvölkerreich, und deswegen, trotz seiner kulturellen Dominanz, stets zum „Völkerkenner, Menschenkenner, Seelenkenner“ habe werden müssen – also letztlich zum Psychologen. Denn Psychologie sei Pflicht im Zusammenleben der Menschen und Völker.

Freilich würde eine solche „Einfühlungsgabe“ auch hemmen. „Tat- und Herrenmenschen“ hätten es leichter, anderen ihr Gesetz aufzuzwingen. Ein solcher Tat- und Herrenmensch aber sei der Österreicher nicht. Aber „von der höheren Warte reiner Menschlichkeit aus gesehen“ sei dies kein Fehler. „Nicht ohne tiefere Ursachen“ rühre der Ausspruch: „Von Humanität über Nationalität zur Bestialität“ von einem Österreicher, nämlich von Franz Grillparzer, den Wildgans so verehrte.

So sei der „österreichische Mensch“, meinte Wildgans, in seiner Sprache und ursprünglichen Abstammung nach Deutscher, aber sein Deutschtum, so überzeugt und treu er auch daran festhalten würde, sei „durch die Mischung vieler Blute in ihm und durch die geschichtliche Erfahrung weniger eindeutig und spröde, dafür aber umso konzilianter, weltmännischer und europäischer.“

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Und? – Wildgans schaut mich durchdringend an – was meinen Sie? Wird meine Rede Früchte tragen? Gewiss, sage ich, gewiss, aber vielleicht nicht sofort.

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Kommen Sie, ich zeige Ihnen etwas, sagt der Schriftsteller zu mir. Und er klingt dabei so, als würde er keine Widerrede dulden. Wir zahlen und gehen los. Der Himmel ist blau, die Sonne scheint, Mödling zeigt sich von seiner besten Seite.

Wo er mich denn hinführe? Zur Ruine, ist nicht weit, eine halbe Stunde zu Fuß. Kommen Sie, wir gehen über die Jasomirgottstraße, das ist nur ein kleiner Umweg, aber ein angenehmer und – Wildgans lächelt – wahrscheinlich auch erhellender bei Ihrer Suche.

Wir biegen in die Babenbergerstraße ein, erreichen den Europaplatz, als sich, von der Kaiserin-Elisabethstraße kommend, eine kleine Gestalt nähert, die uns schon von Weitem freundlich zuwinkt. Die Mittagssonne scheint ihr ins Gesicht, das von ihrer Ordenstracht umrahmt ist.

Gott zum Gruße! Mein Begleiter scheint hoch erfreut über die Begegnung, aber nicht unbedingt überrascht. Darf ich vorstellen: Die Oberschwester der Chirurgie hier im Krankenhaus, Schwester Restituta. Sehr erfreut, sage ich, und denke mir: da muss ich nicht googeln, die kenne ich. Kommt aus der Nähe von Brünn, aus Mähren, wie der Karl Renner oder der Kardinal Innitzer oder meine Urgroßmutter.

Wie es ihr denn so ginge? Im Moment ganz gut, nachdem sich die Dinge ein wenig beruhigt hätten nach der Katastrophe im Mai. Dem Leopold Müller hätten sie einfach nicht mehr helfen können hier im Krankenhaus. Und die Aufmärsche aller Art, die Massen auf den Straßen, die Unerbittlichkeit, mit der man sich begegne, in Wien, und jetzt auch hier in Mödling – wo soll denn das alles hinführen? Heute sei ihr freier Tag, immerhin, ein wenig Ruhe.

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Gerne folgt sie unserer Einladung, uns zu begleiten. Unser Weg führt uns also nach Westen, in den Stadtwald. Hier schlägt das botanische und zoologische Herz Europas, lese ich auf einer Infotafel, während meine beiden Begleiter ihren Weg gemessenen Schrittes weitergehen, tief ins Gespräch versunken.

Worüber die beiden wohl sprechen?

Er wird nicht mehr erleben, wie die Lage hier in Mitteleuropa Schritt für Schritt eskalieren wird: Der Aufstieg der Nationalsozialisten, die Machtübernahme Hitlers und seiner Schergen in Deutschland 1933, das Ende der Demokratie in Österreich 1934 und die Errichtung eines Ständestaates, einer Kanzlerdiktatur, die später von manchen auch als Austrofaschismus definiert werden wird.

Ein autoritäres Regime auf christlicher Basis, das sich gegen den Nationalsozialismus stemmen wollte, aber weder die Stärke noch die Integrationskraft finden würde, tatsächlich alle Stände, Schichten, Milieus und politischen Strömungen zu verbünden, die sich gegen das Dritte Reich wehren wollten.

1938 brachte nicht nur den Anschluss und damit das Ende des Österreichs als eigenständiger Staat. Wir kennen die Bilder vom Heldenplatz und auch die Fake-Abstimmung ist bekannt: 99,73 % stimmten für den Anschluss. Unter den Befürwortern befanden sich auch so prominente Akteure wie Kardinal Innitzer und Karl Renner, aber auch Vertreter aus Kunst und Kultur: Karl Böhm, Paula Wessely und der berühmteste Zögling des Mödlinger Waisenhauses, Josef Weinheber.

Mödling lag mit 27 Nein-Stimmen und 26 ungültigen Stimmen bei circa 12.500 Einwohner im Durchschnitt.[1] Die Stadt und der Bezirk wurden als 24. Bezirk Teil von „Groß-Wien“, viele Österreicher aber genau zu jenen „Tat- und Herrenmenschen“, vor denen es Anton so graut.

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Die Tschechoslowakei wurde zerschlagen, Josef Schöffels Böhmen wurde so wie auch die mährische Heimat von Schwester Restituta an Deutschland angeschlossen. Die sogenannten „Volksdeutschen“ in den Ländern Mitteleuropas haben sich wie auch die Reichsdeutschen und die Österreicher vom Irrsinnskonzept eines erfolglosen Historienmalers und Weltkriegsgefreiten aus Braunau täuschen lassen.

Und doch gilt: Hitler war eben nicht allein, und seine Ideen hat er sich nicht aus den braunen Fingern gesaugt. Einer seiner Ideengeber soll Jörg Lanz von Liebenfels gewesen sein, ein Spinner und Verschwörer, zuerst auch Jesuit in Heiligenkreuz, später Privatier, der sich selbst als „Ariosoph“ bezeichnete – und der sehr daran interessiert war, sich selbst als „Ideengeber“ Hitlers zu inszenieren.

So soll Hitler in seiner Wiener Zeit als Clochard die von Lanz von Liebenfels herausgegebenen Ostara-Hefte gelesen haben, und die hatten es tatsächlich in sich. Allein: die Mischung aus „Rassismus, Antisemitismus, Antikatholizismus, Antifeminismus und Antisozialismus“ gab es damals überall.

Die in Tausenden Exemplaren verbreiteten Hefte, die allesamt vor dem Ende der Donaumonarchie erschienen, hatten aber gewiss ihren Einfluss auf den Zeitgeist. Und: Von 89 Ausgaben erschienen die letzten 24 Hefte in Mödling.

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Als der Zeitgeist zur grausamen, auch staatlich institutionalisierten Realität wurde, das „Dritte Reich“ auch Österreich umfasste, ging der Mödlinger Albert Drach widerwillig nach Frankreich. Denn er stammte aus einer altösterreichischen Familie, wie sie einst völlig normal und typisch war, aber heute in ihrer Herkunft und Haltung kaum mehr verstanden wird:

Die Mutter Jenny aus einer Wiener aschkenasischen Kaufmannsfamilie, der Vater Wilhelm aus einer sephardischen Großbauernfamilie in der Bukowina. Bevor dieser sich in Wien inskribierte und dann hier hängenblieb, hatte er Mathematik und Philosophie in Czernowitz, der Hauptstadt des Kronlandes Bukowina studiert. An jener Alma Mater Francisco-Josefina, die vor nicht einmal einer Woche ihr 150-jähriges Bestehen gefeiert hat. Und die heute als Jurij Fedkowych-Universität zu den besten in der Ukraine gehört.

Im vielsprachigen Czernowitz galt einst die deutsche Sprache als Lingua franca, als Sprache des Aufstiegs. So überrascht es nicht, dass die Aufstiegswilligen, unter ihnen viele Juden, sich zur deutschen und/oder österreichischen Kultur hingezogen fühlten.

Hier wuchsen Studentenkorporationen wie Pilze aus dem Boden – schlagend oder katholisch, deutschnational oder österreichtreu, polnisch, ukrainisch, rumänisch, deutsch und jüdisch. Wo es also nichts Besonderes war, dass ein Wilhelm Drach sich als Deutschnationaler fühlte, selbst als Juden schon lang nicht mehr als satisfaktionsfähig galten und aus dem christlichen Antijudaismus längst ein völkischer Antisemitismus geworden war.

Wie tief mussten diese Altösterreicher fallen, als sie bemerkten, dass ihre kulturellen Affinitäten keine Gültigkeit mehr hatten, seit das alte Österreich mit seinem Schutzschirm untergegangen war.

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Auch Restituta musste es nun ähnlich ergehen. Sie blieb ihren Überzeugungen treu und verteidigte diese auf eine Art, die ihr den Spitznamen „Schwester Resoluta“ eingebracht hatte: Es ging ihr um ihr von den Nazis bedrohtes christliches, katholisches Ordensleben. Aber auch um Österreich und die Österreicher, die sie als eigenständiges, unabhängiges Volk sehen wollte.

Sie hängte Kreuze in die Zimmer des Krankenhauses, ohne Genehmigung und gegen den Druck, den der Nationalsozialismus ausübte. Ein Chirurg meldete sie dann bei der Gestapo. Nicht nur wegen der Kreuze, sondern weil sie regimekritische Schriften erstellt und vervielfältigt hatte. Da ging es auch um ein Soldatenlied, dessen Text ihr heimlich übergeben worden war:

„Erwacht Soldaten und seid bereit,
Gedenkt eures ersten Eid.
Für das Land, in dem ihr gelebt und geboren,
für Österreich habet ihr alle geschworen.

Da sieht ja schon heute jedes Kind
das(s) wir von den Preussen verraten sind.
Für die uralte heimische Tradition
Haben sie nichts als Spott und Hohn.

Den altösterreichischen General
Kommandiert ein Gefreiter von dazumal.
Un(d) der österreichische Rekrut
ist für sie nur als Kanonenfutter gut.

Und so geht es noch mehrere Strophen lang, bis das Lied erneut mit einem Schwur auf Österreich zu enden:

Wir nehmen die Waffen nur in die Hand
Zum Kampf fürs freie Vaterland.
Gegen das braune Sklavenreich
Für ein glückliches Österreich!
[2]

*

Am 18. Februar 1942 wurde Schwester Restituta von der Gestapo verhaftet, am 29. Oktober 1942 wegen „landesverräterischer Feindbegünstigung und Vorbereitung zum Hochverrat“ vom Volksgerichtshof zum Tod verurteilt und am 30. März 1943 enthauptet. Mit ihr starben neun kommunistische Funktionäre.

1998 wurde sie von Papst Johannes Paul II. „als erste Märtyrerin der Erzdiözese Wien seliggesprochen“.[3]

Anna Haider, die wegen kommunistischer Betätigung mit ihr im Zuchthaus saß, hatte 1946 im Radio folgende Worte gefunden:

„Sie hat geholfen ohne Rücksicht auf Nationalität oder Weltanschauung, ob jemand katholisch war oder konfessionslos oder kommunistisch war oder sozialdemokratisch oder christlich-sozial, da hat sie weder gefragt, noch hatte es irgendeine Bedeutung für sie. […] Sie hat die Menschen sichtlich wirklich gerne gehabt.“

*

Schwester Restituta wusste, wo sie stand. Sie war aber in der Lage, jegliche Pauschalisierung zu vermeiden und zuerst das Individuum, den Menschen, zu sehen. Als dies Anna Haider im Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus der Perspektive einer verfolgten Kommunistin zum Ausdruck brachte, lag Europa in Trümmern. Zerschlagen von den verschiedenen Spielarten der Pauschalisierung und des Kollektivismus. 65 Millionen Tote, allein 6 Millionen davon in der Shoa.

Albert Drach war einer der wenigen Überlebenden, die nicht nach Israel oder Übersee gingen, sondern in ihre österreichische Heimat zurückkehrten. Ab 1948 war er wieder in Mödling. Man machte es ihm nicht leicht; um sein Haus musste er kämpfen. Letztlich ist er aber bis zu seinem Tod nicht nur Mödlinger, sondern ein Sohn des alten Österreichs geblieben, wo man als Jude nicht um seine Daseinsberechtigung hat kämpfen müssen.

*

Für Schöffels und Restitutas Landsleute in den böhmischen Ländern und auch für die deutschen bzw. altösterreichischen Gruppen in Ungarn, Polen, Jugoslawien und Rumänien hatte bereits mit dem Rückzug der Ostfront 1944 eine Zeit der Flucht, der Vertreibung und der Aussiedlung begonnen. Millionen Menschen waren in Bewegung, für sie von Befreiung keine Spur:

Hunderttausende flohen, „insbesondere Siebenbürger Sachsen und Karpatendeutsche, vor der vorrückenden Roten Armee, teils organisiert, als „Evakuierung“ verharmlost, teils selbstorganisiert, „allein, in Kleingruppen oder Trecks“, teils unter dem Schutz der sich zurückziehenden deutschen Streitkräfte, teils völlig schutzlos und ausgeliefert.

Parallel zu den Fluchtbewegungen setzten insbesondere in Polen und in der Tschechoslowakei unregulierte Austreibungsvorgänge ein, die als sogenannte „wilde Vertreibungen“ in die Geschichte eingegangen sind. Es handelt sich dabei um gewaltsamste Entladungen der Vergeltung für das brutale Besatzungsregime der Nationalsozialisten unter den Augen der bereits präsenten Sowjets.

Erneut in der grausamen Logik: Alle waren im sog. „Dritten Reich“ pauschal zur Volksgruppe zusammengefasst worden, nun wurden sie alle pauschal bestraft – alle sollten die Rache spüren. Ebenso pauschal wurden die Rachenehmenden vom tschechoslowakischen Staat von jeder Schuld freigesprochen.

Massenhaft kamen Menschen über die Grenze nach Österreich. Stellvertretend sei hier jener Todesmarsch genannt, der von Brünn, dem Geburtsort Restitutas, ausging. Ende Mai 1945 wurden rund 27.000 deutschsprachige Altösterreicherinnen und Altösterreicher Richtung österreichische Grenze getrieben. Tausende starben an Versorgungsmangel und Krankheit.

Auch aus dem Südosten kamen Menschen. Es waren größtenteils Frauen, Kinder und Nicht-Wehrfähige – Zivilisten, die versuchten, mit der Flucht Richtung Westen ihr Leben zu retten. Fluchtgeschichten sind vor allem Frauengeschichten.

Eine von ihnen war Annemarie Ackermann. Aus Neusatz, Novi Sad, in der Vojvodina schlug sie sich mit ihren Kindern und hochschwanger über Ungarn bis Wien durch. Es war Februar 1945, es fielen Bomben, auch auf die Notunterkunft der Familie Ackermann. Man landete in Gaaden in einem Haus. Und so gebar Annemarie Ackermann, die spätere Abgeordnete im Deutschen Bundestag, die bislang erste und einzige Donauschwäbin in diesem Amt, ihr fünftes Kind Harro im Keller des Mödlinger Krankenhauses.[4]

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Kurz bevor 1955 der Staatsvertrag geschlossen wurde, war circa jeder 20. Österreicher ein Flüchtling, Vertriebener oder Aussiedler.

Kaum jemand, insbesondere hier in Ostösterreich, der nicht Verwandte oder Bekannte hat, die selbst aus den altösterreichischen Gebieten stammen und entweder noch in der Donaumonarchie, so wie Schöffel oder Restituta, oder aber später unfreiwillig nach Österreich kamen.

Im Mödlinger Volkskundemuseum zeugt die Egerländer Krippe von der Größe und der Mobilität, die Mitteleuropa einst schon gekannt hatte. Mit seinen Katastrophen, aber auch im besten Sinne als Europa im Kleinen.

Trotzdem bleibt die Frage, warum dieser Teil der österreichischen Geschichte relativ wenig Aufmerksamkeit erfahren hat. Und warum die Vertriebenen oft sehr schlecht behandelt wurden.

Ich würde gerne meine beiden Begleiter fragen, was sie davon halten. Doch beide hatten diese Zeit nicht mehr erlebt. Und so auch nicht die Wiedererstehung Österreichs 1945 und die endgültige Unabhängigkeit des Jahres 1955.

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Allmählich hole ich die beiden wieder ein. Wir nähern uns dem Ziel unseres Spaziergangs. Es sind die Mauern einer vielleicht schon über 1000 Jahre alten Burg, von den urösterreichischen Babenbergern erbaut; eigentlich als Alterssitz der verwitweten Theodora geplant, der Nichte eines byzantinischen Kaisers.

Offenbar ein langfristiges Strukturmerkmal dieses Ortes: Alterssitz zu sein für Protagonisten der Weltgeschichte. Und apropos Strukturmerkmale: Der Erbauer Heinrich soll sich Herzog genannt haben, obwohl er eigentlich keiner war. Er ist damit kein Einzelfall in der österreichischen Geschichte.

Und apropos Promis der Weltgeschichte: Hier soll gar Walther von der Vogelweide zu Gast gewesen sein, und dass es dafür keine Belege gibt, soll uns nicht weiter kümmern. Es ist ja auch nicht ganz so sicher, dass es ihn überhaupt gegeben hat. So bleibt der Gedanke, dass der größte deutschsprachige Minnesänger des Mittelalters hier seine Hits zum Besten gegeben hat.

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Zum Glück noch im Mittelalter, denn bald nach Anbruch der Neuzeit verfiel die Burg zur Ruine. Und der offenbar romantisch veranlagte Fürst Johann I. von Liechtenstein baute dann eine Fantasy-Burg auf den Trümmern. Die hat man den Liechtensteins dann aber während der Revolution von 1848 kaputt gemacht.

Sicherheitshalber schenkte man die Mauerreste dann der Stadt Mödling; so möglicherweise, um sich die Entsorgungskosten zu sparen.

Später hat man sich dann um eine anständige Erhaltung der Mauerreste gekümmert. Diese sind also gleichzeitig romanisch und romantisch, alt und altertümlich, historisch und historistisch, wie ein Wiener Schnitzel oder eben ein Schnitzel nach Wiener Art … auch das passt perfekt ins historische Weichbild der Stadt und seiner Mauern.

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Während Anton, Restituta und ich uns die Sonne, die sich langsam Richtung Westen dreht, ins Gesicht scheinen lassen, gesellt sich still eine Frau zu uns.

Mitsuko! rufen meine beiden Begleiter wie aus einem Mund: Schön dich zu sehen. Sie stellen mir die Dame als Mitsuko Maria Thekla Coudenhove-Kalergi vor. Den Nachnamen habe ich schon irgendwann einmal gehört…

Geboren in Tokio, hatte sie dort den österreichisch-ungarischen Geschäftsträger in Japan, Heinrich von Coudenhove-Kalergi, kennen- und lieben gelernt und dann auch noch geheiratet. Freilich erst, nachdem man sie katholisch gemacht hatte.

Seither trug sie den Namen eines byzantinisch-kretischen Adelsgeschlechts, das ungefähr so alt wie die Mödlinger Babenbergerburg ist.

Später sollten ihr Mann und sie die Erbgüter im westböhmischen Ronsperg verwalten. Nach seinem Tode aber verbrachte sie auch viel Zeit in Wien, wo die Kinder ihre Ausbildung genossen. Und seit Kurzem ist sie nun Bürgerin der Stadt Mödling.

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Wie es den werten Kindern denn ginge? Vor allem der Richard, der macht ja gerade Furore, nicht wahr?  Ja, der Krieg habe ihn verändert, er lässt nicht ab von der Idee, Europa zu vereinen.

„Das kontinentale Europa von Portugal bis Polen wird sich entweder zu einem Überstaate zusammenschließen oder noch im Laufe dieses Jahrhunderts politisch, wirtschaftlich und kulturell zugrunde gehen,“ hatte Richard Coudenhove-Kalergi 1922 in einem Zeitungsartikel geschrieben. Dann ein Buch, in dem er seine Analyse erweiterte, und die Gründung seiner Paneuropa-Bewegung anregte, in der er alle Europäer versammeln wollte.

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Die Idee verfing. Bald hatte er prominente Unterstützer aus verschiedenen politischen Lagern: In Österreich Bundeskanzler Prälat Ignaz Seipel und Karl Renner, in Deutschland Reichstagspräsident Paul Löbe und Gustav Stresemann, die französischen Ministerpräsidenten Edouard Herriot und Leon Blum, in England die Minister Leo Amery und Duff Cooper.

Dank Seipel konnte Richard sogar ein Büro in der Wiener Hofburg beziehen. Und schon 1926 fand der erste Paneuropa-Kongress in Wien mit „mehr als 2000 Teilnehmern aus 24 Nationen“ statt. Das Ziel war die „friedliche Einigung und Entwicklung des Kontinents“.[5]

1929 erschien die Idee endlich auch auf der politischen Agenda, als der französische Außenminister Aristide Briand „in einer Rede vor dem Völkerbund die Schaffung von ‚einer Art föderativem Band‘ zwischen den europäischen Nationen vorschlug. Doch gleichzeitig markierte dieser Moment das vorläufige Ende: „England lehnte den Plan gänzlich ab, in Deutschland starb Gustav Stresemann, und auch die französische Politik verfolgte die Initiative aufgrund der allgemeinen Entwicklung nur mit halbem Herzen.“[6]

Der Börsenkrach und die folgende Weltwirtschaftskrise beendete dann jegliche Öffnungsbestrebung: Wir wissen, was danach kam.  Richard Graf Coudenhove-Kalergi warnte noch 1932: Stalin bereitet den Bürgerkrieg vor – Hitler den Völkerkrieg.

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Nach der Machtergreifung Hitlers wurde die Paneuropa-Union zwangsaufgelöst, die Schriften verboten. Als Ziel blieb, die Selbständigkeit Österreichs zu erhalten, im Rahmen einer mit Italien und Frankreich verbündeten Donauföderation. 1938, mit dem Anschluss Österreichs, endeten auch diese Bemühungen. Coudenhove ging ins amerikanische Exil, wo er bis 1946 blieb.

Seine Mutter Mitsuko aber sollte kurz nach unserer Begegnung einen Schlaganfall erleiden und bis zu ihrem Tode 1941 ihr Mödlinger Haus nur mehr bei wenigen Gelegenheiten verlassen. Bald sollte es auch nicht mehr viel zu sehen geben, das dazu motivieren würde, vor die Tür zu gehen.

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Richard aber gab nicht auf: Nach dem Krieg gründete er, zuerst ohne offizielle politische Unterstützung, eine „Europäische Parlamentarier-Union“, in der Parlamentarier aus verschiedenen europäischen Ländern vertreten waren. 1955, im Jahr der österreichischen Unabhängigkeit, schlug er vor, Beethovens Vertonung von Schillers „Ode an die Freude“ zur Europäischen Hymne zu machen. Drei Jahrzehnte später sollte sie immerhin zur Hymne der Europäischen Union werden.

Der Grundstein für das Zusammenwachsen war also gelegt. Aber Europa, insbesondere dessen Mitte, war noch weit entfernt von einer Einigung. Denn erneut müssen wir uns in Erinnerung rufen, dass 1945, nach Krieg und Shoa, Flucht und Vertreibung, nach dieser europäischen Autoaggression von noch nie dagewesenem Ausmaß, nicht für alle eine Befreiung brachte. Denn mitten durch den Kontinent ging ein Riss: Der Eiserne Vorhang senkte sich über Europa. Die Mitte wurde zum doppelten Rand zwischen Ostblock und Westblock. Und es sollte mehr als vier Jahrzehnte dauern, bis die Blöcke zu Bausteinen wurden, zu Bausteinen für ein neues Europa. Die Europäische Union, der Österreich seit 1995 angehört, ist eine Ausdrucksform dafür – das Vehikel auf einem langen Weg, der offensichtlich noch nicht zu Ende gegangen ist.

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Ich bin mir noch immer nicht sicher, ob ich Mödling nun endlich verstanden habe. Meine Begleiter haben sich aber sehr bemüht. Und: Von der Burg aus lässt es sich gut in alle Richtungen blicken. Nördlich ist irgendwann einmal Wien, die Stadt, mit der Mödling eine nahezu symbiotische Beziehung pflegt. Nicht umsonst heißt es „Wien bei Mödling“. Im Westen, da ist es dank eines böhmischen Mödlingers noch immer ziemlich waldig, wie auch im Süden, wo beim Eichkogel die pannonische und die atlantische Klimazone aufeinandertreffen.

Für die Burgwächter aber war es einst besonders wichtig, über die Mödlinger Siedlung hinweg nach dem Osten zu sehen. So wie nun Anton, Restituta, Mitsuko und ich, wenn wir, das Westlicht im Rücken, in die Ferne blicken. Fast meint man bis nach Budapest sehen zu können, bis zu den Karpaten, oder gar bis in die Bukowina, nach Czernowitz.

Schaut, sagt Restituta, und deutet auf den unendlichen Horizont, der sich über die pannonische Tiefebene wölbt. Da scheint ein Sturm aufzuziehen. Ja, meint Mitsuko. Aber dann wird wieder die Sonne scheinen.


[1] Mitteilungen_1991_4_nationalsozialismus_in_der_österreichischen_provinz.pdf

[2] https://www.doew.at/cms/download/e5ok5/anklageschrift_restituta_1942.pdf

[3] https://www.doew.at/erinnern/biographien/spurensuche/maria-restituta-helene-kafka-1894-1943

[4] Hackenberg: Das Geschenk der leeren Hände. S. 69.

[5] https://www.paneuropa.at/philosophie/geschichte/

[6] https://www.paneuropa.at/philosophie/geschichte/

Alle Wildgans-Zitate von: Anton Wildgans – REDE ÜBER ÖSTERREICH

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