
(c) F. Kührer-Wielach
Wir parken ganz gerne in dem grauslichen Betonklotz, der zwar in der zweiten Reihe, aber deutlich sichtbar das historische Zentrum Bad Gasteins optisch mitdefiniert. Es ist halt praktisch, das Auto mitten im Ort abzustellen. So oft waren wir schon hier.
Aber diesmal ist alles anders. Denn erst heute haben wir das Dachgeschoß der Parkgarage für uns entdeckt. Das Panorama, das sich uns von dort bietet, ist großartig. Selbst das leerstehende Kongresshaus mit seinen vier Glas-Metall-Knödeln fügt sich, von hier oben gesehen, irgendwie schlüssig ins Weichbild.
MARIA HILF!
Ein Glück, dass man vom Brutalismus wieder abgekommen ist, denke ich mir, während ich meinen Blick zur Seite wende und selbiger auf den neuen Badeschlossturm fällt, der, alles überragend, quasi auf Augenhöhe zu mir herüberzwinkert und mich eines Besseren belehrt. Rau, rough, brutalistisch. Aber dazu später.
Dort oben steht, wie von noch weiter oben geschickt, eine Maria mit Jesuskind, wie aus dem Nichts erscheint sie dem unbedarft Parkenden, völlig deplatziert, aber keineswegs verkehrt. Muttergottes, Miterlöserin der Welt bitte für uns steht da, mit einem Komma zu wenig, und doch so tröstlich, nicht nur den Freunden geschmackvoller Architektur.
ES GEHT ABWÄRTS
Wir verlassen das Parkhaus also erstmals oben- und rückseitig und spazieren durch die steilen Straßen zwischen den Bettenburgen. Der Kinderwagen zieht mich, den Regeln der Schwerkraft folgend, weiter hinunter.
Die Jahrhundertwende hat hier zugeschlagen, Grand Hotels, so weit das Auge reicht. Hier oben sind die gut in Schuss, im Gegensatz zu den alten Kurhäusern weiter unten. Im Eden Rocks Pub sind sogar ein paar Hollywoodgrößen abgestiegen, Jude Law, Bono, Hugh Grant, steht auf der Hauswand.
Und manchmal bleiben diese schwarzen Kleinbusse stehen, die mit dem Münchner Kennzeichen, die die Großfamilien vom Franz Josef Strauß-Airport in die Alpen bringen. Gutbetuchte, in mehrerlei Hinsicht. Manchmal kleben Hirschgeweihe an den Wänden.
AUFSTOCKER ALLENTHALBEN
Es ist wie der Gang durch ein Wolkenkuckucksheim, denke ich mir, das Monte Carlo der Alpen, sagen andere. Die vielen historischen Hotels sind mit kleinen Täfelchen ausgestattet. Erbaut von, steht da, und: berühmter Architekt. Und ganz oft: Erweitert. Ausgebaut. Aufgestockt. Ein Ort wächst in den Himmel.
Die Schleife, die wir bergab ziehen, führt uns am Hotel Regina vorbei, ein weiterer Jahrhundertwendebau, doch gestalterisch wie restauratorisch derartig gut gemacht, dass ich, immer wenn ich vorbeikomme, kurzfristig an das Gute im Großen, an die stilvolle, ja geradezu emanzipatorische Seite der Gasteiner Megalomanie zu glauben beginne.
MOZART UND LUTHER
Weiter Richtung Lutherpark. Vor dem Kriegerdenkmal ein Mozartbrunnen, zum 200. Todestag von einem Menschen guten Willens gestiftet. Völlig bekifft, denke ich mir, als ich den Blick des großen Komponisten sehe. Entweder er oder der Bildhauer.
Weiter zur evangelischen Christophoruskirche. Gerne wird vergessen, welch weite Verbreitung der Protestantismus in der ganzen Region hatte. Als Zigtausende nach Preußen gehen mussten. Eine Höchststrafe, würden manche jetzt sagen.
Der neugotische Bau bietet sich als Ort der kurzen Rast an, die Proportionen innen wie außen angemessen, angenehm, unaufgeregt. Ein weiterer kleiner Höhepunkt der Baukunst. halte was du hast damit dir niemand deine krone nehme steht über dem Altarraum geschrieben.
Vor dem Grand Hotel de l’Europe, einst auch Casino, heute ein halber lost place, nur in Teilen genutzt, steht ein Mann mit Sohn, leicht verzweifelter Blick. Ob ich wisse, wo es denn hier etwas zu sehen gäbe. Wo das Zentrum sei. Ob er schon beim Wasserfall gewesen ist? Ja? Hm. Das sei es auch gewesen mit Zentrum, muss ich ihm erklären.
Etwas scheint in ihm zu zerbrechen. Wir müssen weiter.

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WASCHBETONZENTRUM
Ein Höhepunkt der speziellen Art ist das bereits erwähnte, seit über einem Jahrzehnt leerstehende Kongresszentrum mit seinem für die beengten Verhältnisse Gasteins ausladenden Waschbetonvorplatz. „Historisches Zentrum“ steht auf dem Klotz, ich bin mir nicht sicher, ob das ernst gemeint ist.
Der Wasserfall, der hier mittendurch gischtet, ionisiert die Luft, aber ob er sie auch ironisiert? Weiter geht’s, wir haben Zeit und Ruhe, die Mitesserin schläft.
Wie schön, endlich hat das Straubinger wieder offen. Und vis-a-vis das alte Badeschloss. Nach Jahren des Leerstands, der Spekulation und des Verhandelns stehen die beiden Hotels wieder ihrem Publikum zur Verfügung. Im Investorenpaket inkludiert war jedoch offensichtlich auch die Erlaubnis, ein neues Badeschloss hinten dranzubauen. Genau: den Betonturm, über dessen Anblick mich zuvor nur die Hl. Maria trösten konnte.
DER BETRUNKENE ONKEL AUF DEM FAMILIENBILD
Schick ist er, überragt alles andere, blinzelt zwischen den Bauten hervor, feixt und gebärdet sich wie der lang gewachsene, leicht betrunkene Onkel auf dem Familienfoto. Wer vor dem Straubinger sitzt und einen Kaffee trinkt, der muss zwangsläufig das Trumm anschauen. Kleine Bausünden straft der liebe Gott sofort, von den großen hingegen soll die Menschheit offenbar länger etwas haben.
Eigentlich bin ich gar nicht so. Gerne würde ich diesen ersten „nennenswerten“ Neubau seit vielen Jahren, wie eine Tageszeitung schrieb, als Leuchtturmprojekt wahrnehmen. Zeitgemäß. Frech. Ned so schlecht, sagt die große Mitesserin. Manhattan der Alpen, schreiben andere. Und ich: 35 Meter Hybris. Ein Hotel wie ein Arschgeweih, nur 20 Jahre zu spät. Nix gelernt. Aber auch ich: Dieser Ort wächst halt immer wieder über sich hinaus. Passt also doch hierher, am Ende.

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ZUM SCHUH
Aber auch diesmal kommt das Beste am Schluss. Wir flanieren zu einem Ort, an dem sich jegliche Innovation die Zähne ausbeißt. Sei sie nun baulich, stilistisch oder kulinarisch. Weiter hinten, auf der Kaiser Wilhelm-Promenade, vorbei an den schicken neuen Läden, den ansprechenden Showrooms und Ateliers für zeitgemäße Kunst (super Sachen dabei!), zum Café Schuh.
Schnell geht hier nichts und neu ist hier nichts, aber der italienische Chef hat einen Bart wie der (österreichische) Kaiser. Die Kellnerin nicht, aber die ist auf zack, ich bin „der Herr mit dem Kinderwagen“, Sie müssen verzeihen, wir kategorisieren die Gäste ein bissl für uns. Keine schlechte Idee, so spart man sich die Tischnummern, denke ich mir.
Der kleine Misanthrop, der wahlweise auf meiner rechten oder linken Schulter sitzt, hat gleich ein paar Vorschläge, um die anderen Gäste zu kategorisieren, aber ich mahne ihn, sie für sich zu behalten. Schon um der deutsch-österreichischen Freundschaft Willen.
KAISERKULINARIK IN MEHREREN AGGREGATZUSTÄNDEN
Es gibt diverse Pasta für die Mitesser und für mich einen Kaiserschmarrn. Der wird inklusive Wartezeit verkauft, ist also frisch zubereitet. (Oder sie lassen ihn heimlich liefern.)
Ich kann nicht widerstehen, ich bestelle mir beim Kaiser Franz Joseph-Lookalike auf der Kaiser Wilhelm-Promenade bei Kaiserwetter zum Kaiserschmarrn ein Kaiserbier. Das ergibt einen schönen, herben Kontrast zum ausgezeichneten und frischen Schmarrn, der mit Zwetschkenröster daherkommt. Auf Original Café Schuh-Geschirr, lovely würden die Freunde des Betonbadeschlosses vielleicht sagen.
Kosten: 53 Euro für 3 Hauptspeisen, ein kleines Bier, drei große Getränke und einen kleinen Kaffee.

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BENOTUNG
Geschmack: 4 von 5 selbstgedrehten Mozartkugeln, davon gehen 3,5 Punkte auf das Konto des Kaiserschmarrns
Atmosphäre: 5 von 5 zerrissenen Schaßdackerln – das Schuh kannst weder erfinden noch nachbauen
Kulinarische Kakanizität: 4,5 von 5 Kaiserdoubles
Soziokult: Von Kai-Uwe über Gerti bis Francesco – alle da.
Toilette: absolutes Highlight! Raufasertapete an der Decke!
Wir genießen den Time Travel Gastein, sitzen über zwei Stunden im Schanigarten. Immer wieder mache ich kleine Ausflüge ins Innere: der Gastraum (für Nichtraucher!) aus einer undefinierbaren, längst vergangenen Zeit, an der Tapetenwand alte Stiche und Gemälde, und auch welche aus dem Möbelhaus, eine Vitrine mit den Torten dann im Nebenraum. Eine Durchreiche zur kleinen Küche. Die teppichüberzogenen, schmalen Stufen ins Obergeschoß, wo sich die Toiletten befinden. Eine alte Kaffeemaschine auf den Dielen abgestellt, von einer Tischdecke verhüllt. Verstaubte Plastikblumen obendrauf.
Das Café Schuh halt. Wie in unsere Zeit gefallen. Epic.
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