
(c) F. Kührer-Wielach
Der Naschmarkt zeigt sich in der Regel dort von seiner schönsten Seite, wo er aufhört. Vor allem, weil er aufhört.
Immer glaube ich an ein überraschendes Vergnügen, wenn ich mich entscheide, wieder einmal zwischen den Ständen entlangzuschlendern bzw. mich durchschieben zu lassen. Mit Kinderwagen ist das ohnehin nur an solch regnerischen Vormittagen möglich, wenn die Touristen noch beim Frühstück sitzen, Vollkornbutterbrote kauend, vor sich den Reiseführer aufgeschlagen, der sie dann unweigerlich Richtung Naschmarkt lotsen wird.
DIE OLIVENWURFWELLE
Noch aber ist wenig los, die Verkäuferinnen und Verkäufer können sich also voll auf uns konzentrieren. Wie eine La-Ola-Welle funktioniert das: in dem Moment, in dem wir vorbeigehen, springt man auf und versucht uns mit Käse und Oliven zu bewerfen. Kostproben.
Kleine Schwester auch kosten, ruft mir einer nach, und deutet auf das Wagerl. Ok, den finde ich dann doch nett. Oder tut er sich nur schwer, mein Gesicht dem richtigen Alter zuzuordnen? Es ist dann doch eher dunkel heute.
Am Ende des Naschmarkts, dort, wo er sich in einen Art Bauernmarkt auflöst, steht eine Gruppe Schüler mit ihrem Lehrer, ganz offenbar nicht von hier. Das Wienwochenprogramm scheint einen Marktbesuch vorzuschreiben. Dunkle Vorahnungen scheinen zu walten, die Gruppe starrt auf den vor ihnen liegenden Markt, als müssten sie einen Teufelswald durchschreiten. Ich stelle mir vor, wie sie von sprechenden Bäumen mit Bockerl und Zapfen beworfen werden.
DIE GROSSSCHLÄCHTERFASSADE

(c) F. Kührer-Wielach
Wir gehen weiter, den Wienfluss abwärts. Unser Blick fällt auf die mächtigen Fassaden an der Linken Wienzeile. Wienzeilenhäuser nennt man sie, gleich ein Dreierpack von Otto Wagner. Sie sollten den Kern eines Prachtboulevards bilden, der von Karlsplatz bis nach Schönbrunn führt.
Darunter das Majolikahaus, 1898 errichtet, Majolikafliesen von Wienerberger auf der Fassade. Die sind nicht nur schön, sondern lassen sich auch leicht abwaschen.
1938 wurde das Haus samt Fliesen arisiert und der Eigentümer nach Theresienstadt verfrachtet. Eine Großschlächterfamilie wurde zur neuen Besitzerin.
Den Überlebenden wurde die Rückgabe des Hauses verweigert, das Majolikahaus geht nach dem Tod des Großschlächters an die Erzdiözese über, heute gehört es der gemeinnützigen Organisation Haus der Barmherzigkeit.
RATZENSTADL
Wir verlassen die Wienzeile, rollen die Magdalenenstraße hinauf, die einmal das Herz des wunzigkleinen Magdalenengrunds war, benannt nach der fußwaschenden Sünderin. Die schiefen Buden zwischen Gumpendorf und Laimgrube sind damals einfach aus dem Boden gewachsen.
„Saugraben an der Wien auf der Gstätten“ hieß die Ecke, und Nomen scheint Omen: Bis heute erinnert Altwien dieses Grätzl als „Ratzenstadl“, auch wenn zwischen Wienzeile und Kaunitzgasse längst ganz normale Gründerzeithäuser stehen.
Die Ratten, die kamen wohl von den katastrophalen hygienischen Zuständen in den damaligen Bretterbuden, und vielleicht auch von den armen Neuwienern, die vom Balkan hierhergezogen sind: denn die Raitzen, das waren die orthodoxen Südslawen, die in der Osmanischen Zeit hierher und anderswo hin geflüchtet waren. Seit damals genoss die „raizischen Communität“ in Wien Siedlungsrecht und Religionsfreiheit.
SMASHED INTO PIECES

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Über die Kaunitzgasse gelangen wir zum Haus des Meeres, dem man seine Flakturmvergangenheit immer weniger ansieht. Zerschmettert in Stücke (im Frieden der Nacht) / Smashed to pieces (in the still of the night) stand da weithin lesbar geschrieben, aber jetzt ist dort ein Rooftop-Café mit bestem Rundblick über Wien.
Für uns geht es die Barnabitengasse hinauf. Wer den Naschmarkt überlebt hat, kann sich hier in einem italienischen Restaurant noch den Rest holen. Vor dem Lokal eine Figur. Eine Mischung aus Gigolo und Adolf. Scheint zuvor im Prater gearbeitet zu haben, bis ihm entweder die Antifa oder ein gehörnter Ehemann die Gipsvisage poliert hat.
Ein gebrochener Mann im engeren Sinne des Wortes, wie auch sein starrer Blick verrät. Ich weiß ehrlich nicht, wie diese „Werbung“ für das Lokal gemeint ist, aber ich glaube ja auch immer noch an die positive Überraschung am Naschmarkt.
GRUFT
Wir nähern uns jenem Durchgang, wo sich auch der Eingang zur Gruft der Caritas Wien befindet. Hier finden Obdachlose einen Schlafplatz, warmes Essen, Kleidung und die Möglichkeit zu duschen.
Und hier sollen wir in wenigen Tagen zum Kochen antreten. Ein Team, acht Mann hoch, 150 hungrige Mägen, die um Punkt 18:30 Uhr ein Abendessen erwarten. Es wird eine mediterrane Pastapfanne geben, darunter auch einige vegetarische Portionen. Als Nachspeise Apfelstrudel.
Während wir Schürzen anlegen, Kopf und Fuß mit Plastik bedecken und unsere Zutaten in die kleine, aber gut ausgestattete Küche tragen, wird beim Eingang verhandelt: zu betrunken, um hineinzudürfen, komm morgen wieder, nein, so geht es leider nicht, Hansi, schau, willst wirklich, dass wir einen Test machen?
MIS EN PLACE
Wir sollten am Vortag auch einen längeren Abend gehabt haben, während wir alle jene Zutaten zerkleinert haben, die es einen Tag lang im vorgeschnittenen Zustand aushalten. Und die Strudel, immerhin 19 Stück, die haben wir gleich komplett vorgebacken.
Es ist eine Herausforderung, innerhalb von drei Stunden ein ordentliches, schmackhaftes Essen für 150 Personen auf den Teller zu bekommen, eine gute Vorbereitung ist dabei genauso wichtig wie die Kunst des Improvisierens. Zugegeben: diese Herausforderung anzunehmen, diese Mengen zu verkochen, reizt die Gruppe mindestens genauso wie der soziale Aspekt.



RESIGNIERTE GELASSENHEIT
Im Speisesaal herrscht Gelassenheit. Gewiss, eine resignierte Gelassenheit, denn wer hier sitzt, steht an im Leben. Ob es hier immer so diszipliniert zugeht? Zumindest wenn ich da bin, sagt die Chefin, die uns resolut und routiniert, aber gewogen durch unser Küchenabenteuer führt.
Hinter der Budel, bei der großen Spüle, sorgt noch jemand für Disziplin, einer, der offenbar den Sprung über den Schatten des Schicksals und dann auf die Küchenseite geschafft hat. Vielleicht ist er deswegen so streng mit seinen einstigen Schicksalsgenossen. Aber auch uns lässt er spüren: Wir sind hier die Gäste, auf eine Art.
30 MINUTEN
Die Essensausgabe beginnt pünktlich, wir haben dreißig Minuten, dann sollte alles erledigt sein. Die Gäste sind das gewohnt und entsprechend diszipliniert. Während die Nachspeise und das Besteck in die Hand, die Hauptspeise auf den Teller kommt, haben wir die Gelegenheit, jedem einzelnen unserer Gäste ins Gesicht zu blicken und guten Appetit zu wünschen.



BENOTUNG (DIESMAL: EIGENLOB)
Geschmack: 5 von 5 Plastikhauben
Atmosphäre: meistens ruhig
Kulinarische Kakanizität: 2,5 für die Speisen und 2,5 für das teils kakanische Publikum
Soziokult: ein breiteres Spektrum als man denkt
Es sind um einiges mehr Männer als Frauen, einige Junge, viele Ältere, viele mit offenbarem Migrationshintergrund, und sei es nur aus einem Bundesland. Viel Dank, aber auch viel Schweigen, es geht ums Essen, nicht um Ruhm und Ehre. Denn so läuft das hier. Pathos und Stolz haben hier alle an den Nagel gehängt. Wir zumindest für diese paar Stunden, die Mehrheit der Menschen mit den Tellern in der Hand wohl für ihr restliches Leben.
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