
(c) F. Kührer-Wielach
Um die Ecke bei uns gibt es einen kleinen Bauernmarkt. Obwohl er regelmäßig stattfindet, wirkt er wie die Guerilla-Aktion von Waldviertler Lagerhauspartisanen. Hier sind die wichtigsten Produkte aus den niederösterreichischen Highlands zu erwerben, um in Wien zu überleben: festkochende Erdäpfel, speckige Erdäpfel und mehlige Erdäpfel.
Dies bestätigt mir auch einer meiner einstigen Professoren, dem ich zufällig begegne und der sich dort offenbar mit Waldviertler Lebensmittel im Gegenwert eines kleineren Grundstücks im Bezirk Zwettl eingedeckt hat. Denn freilich gibt es auf dem Guerillabauernmarkt auch Gemüse, Wurst und Mohnstrudel.
MAGENSTRUDEL
Mit Mohnprodukten hatte ich in meiner Wein-Waldviertler Grenzlandkindheit freilich ein Problem: in den baierisch-österreichischen Mundarten wird aus dem „Mohn“ bekanntlich ein „Mogn“, und damit aus dem „Mohnstrudel“ ein „Mognstrudel“, was ich als lehrerfamilienbedingt erstsprachlich Hochdeutsch erzogenes Kind eher grauslich fand. Zumal ich meine Vorliebe für Innereien erst nach der Firmung entwickelt habe.
Falsch ist die dialektale Aussprache aber nicht, denn Mohn hieß im Althochdeutschen māho, im Mittelhochdeutschen māhen. Was wiederum auf das alte Wort „mak“ zurückgeht, das für „Beutel“ steht, an den der kugelartige Kopf der Mohnpflanze erinnert. Das Wort Magen geht also auf den selben Wortstamm zurück.
EINKAUF MIT METHODE
Das Wort „mac“ für Mohn begegnet mir auch heute in so mancher ost- und mitteleuropäischen Sprache. Und im kakanischen Kochbuch „Allgemeine Kochkunst für jede bürgerliche Haushaltung“ von 1829 gibt es tatsächlich ein Rezept für „Magenstrudel“. In meiner Erinnerung hat die Fini-Tant dem Hermann-Onkl seine „Mognnudln“ aber immer beim Spar gekauft, damals.
Mein Professor, dem ich manch Kenntnis an methodischem Handwerkszeug rund um meine Dissertation verdanke, insbesondere zum Thema „Vergleich und Verflechtung“, scheint den Waldviertler Minimarkt sehr zu mögen: der sei besser und günstiger als jeder Bobomarkt. Ich stimme zu und verschweige verschämt, dass die Mitesserin und ich vorhaben, heute den Markt im vielleicht boboeskesten Boboviertel der Stadt zu besuchen.
EUGENIE, SCHAU OWA
Der Weg ins Servitenviertel führt uns über den Universitätscampus, einst, als man in der Monarchie noch Magenstrudel buk, von Joseph II. als k.k. Allgemeines Krankenhaus errichtet. Wieder einmal bestätigt sich: die baulich idealen Universitätskomplexe waren früher Krankenhäuser oder Kasernen.
Im Wiener Fall kann zudem die symbolische Lage des Unicampus zwischen Gefängnis, Nationalbank und Narrenturm kaum überschätzt werden. Was hier aber seit der Umwidmung zum Geistesarbeitendenfeld schmerzlich zu vermissen ist: eine ordentliche, günstige Mensa, die ohne Gewinnabsicht geführt wird. Aber im Idealfall auf betriebswirtschaftlichen Erkenntnissen aufbaut und nicht auf ideologischen „Danz“, wie man im Waldviertel sagt. Würde Eugenie Schwarzwald noch leben, sie hätte sich längst darum gekümmert.
HERZ VON BOBOSTAN
Die Schwarzspanierstraße und weiter die Berggasse hinunter in die Rossau, zu der das Servitenviertel gehört. Über den Jörg Mauthe- Platz rollen wir in die schöne Servitengasse. Hier sagt man Wien einen speziellen französischen Flair nach. Und hier schlägt ein Herz von Bobostan, der Republik der „Bourgeoisen Bohemiens“. Ein Volk, das sich vornehmlich um Wiener Märkte sammelt, gleichzeitig Yuppies und Hippies, je nach dem, was gerade angenehmer ist.
Also, der Markt vor der Servitenkirche. Über den vom Naschmarkt stammenden Delikatessen hängt ein großes Banner: Christus ist wahrhaftig auferstanden. Es ist halb elf, die Bobos sind wohl auch schon aufgestanden, aber noch nicht auf der Straße. Offenbar ist gerade Laptopstunde.
Nur einer ist da. Der lässt sich – Zeit haben wir ja – am Käsestand den Biokäse fitzerlweise herunterschneiden, dafür von gefühlt 17 verschiedene Sorten. Ob er sich dann noch die Dinkelkörner für sein selbstgebackenes Mehrkornbrot einzeln einpacken lässt?

(c) F. Kührer-Wielach

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NO BLOODY THURSDAY
Mein Trost und Ziel zugleich: hier gibt es donnerstags die wahrscheinlich beste Blutwurst der Welt, aus dem westlichen Weinviertel, von der Pulkauer Fleischerei Fischer stammend. Allein: die Blunzn steht da, wie ich merke, nur in ungeraden Kalenderwochen. Gerade ist aber eine gerade. Zum Trost für den fehlenden Trost haben sie mir aber einen Wagen mit Bisonfleisch hingestellt.
Ins Auge fällt mir sofort ein vorgelagerter Korb mit Bisonschlünden. „Bisonschlund schmeckt jedem Hund“ steht da drauf. Quengelware für den Waldi, quasi. Gerade wird die Besitzerin eines solchen Bobo-Beagle über die Vorzüge des Bisonschlunds aufgeklärt. Der sei nicht gewürzt, und man könne ihn gut portionieren. Fifi isst nicht gern scharf und teilt sich seine Mahlzeiten gut ein, so wie Frauli. Und wenn die Packung offen ist, halten die getrockneten Schlunde gleich ein paar Monate.
BISONLEBERKÄSESEMMEL
Ein Glück, dass ich dem Gespräch beiwohne. Man weiß so wenig über die Vorzüge von Bisonschlünden, denke ich mir. Und überlege, ob das nicht auch was für die Mitesserin wäre. Vielleicht hilft ihr so ein getrockneter, ungewürzter Bisonschlund ja beim Zähnekriegen? Ich bin mir nicht sicher und verzichte darauf, die Idee umzusetzen und kaufe mir dafür eine Bisonleberkässemmel.
Man darf zwischen einem Joseph Brot-Biohandsemmerl oder einer „normalen“ Semmel wählen. Da wir bereits einen Kredit laufen haben, entscheide ich mich für die „normale“ Semmel. Die Verkäuferin sieht mich zwar scharf an, kommt meinem proletarischen Wunsch nach relativ normalpreisigem Gebäck aber letztlich nach.
NACHDENKEN ÜBER BISONS
Ich setze mich auf ein Bankerl in der nahen Grünentorgasse, mit Blick auf die Peregrinikapelle, die der Servitenkirche, wie ein Walfischbaby seiner Mutter, an der Flanke klebt, und genieße mein 5-Euro-Landbiosonleberkäsesemmerl mit scharfem Senf.
Auf dem Landbisonleberkäsesemmerlpapierl ist vermerkt: „Die gesunde Art der Ernährung“. Für das Bison ist sie eher tödlich, denke ich mir. Und: Warum heißen die Viecher hier eigentlich „Landbisons“? Schmecken die dann irgendwie grüner? Zünftiger? Machen die das extra für die Wiener? Sollten die das dann nicht konsequent durchziehen und vom „Landbiobison“ sprechen? Und gibt es eigentlich auch Stadtbiobisons? Vertragen die den Feinstaub?
Ich stelle mir vor, wie die Stadtbiosons an den Ufern des Donaukanals grasen.
Gleich hinter meinem Bankerl befindet sich das Kiang Wine & Dine, ein weiteres Ziel meines Strolls. Hier will ich reservieren. Und im Gegensatz zur erfolglosen Blunzenjagd gelingt es mir, für den Abend zwei Plätze zu ergattern.
CHINA-CROSSOVER MIT SZECHUAN-EINSCHLAG
Die Idee, sich am Abend einem China-Crossover mit Szechuan-Einschlag hinzugeben, wird sich als exzellent erweisen. Das kleine Lokal sollte sich bald bis auf den letzten Platz füllen. Insofern war es gut, dass ich die kleine Mitesserin samt Wagerl zuhause gelassen und einen größeren Mitesser gebucht habe. Der kann zwar gelegentlich auch so schauen wie ein verschrecktes Rehkitz, sagt seine Frau, aber zusätzlich schon ohne allzu viel Hilfe selbstständig auf einem Sessel sitzen. Letzteres war in unserem Falle von spezieller Bedeutung, da wir Plätze an der Bar bekommen haben, die Fallhöhe enorm.
GESCHMACKSVERGLEICH UND KONISTENZVERFLECHTUNG
Der Mann mit dem zeitweiligen Rehkitzblick teilt mein Interesse an der asiatischen Küche, gepaart mit einem gewissen Hang zur kulinarischen Maßlosigkeit, was in einer chinesischen Tapasbar ein gewisses Eskalationspotential birgt. Wir nutzen also das Streetfood-Tapas-Konzept, um die Methode von Geschmacksvergleich und Konsistenzverflechtung anzuwenden. Als „Quellen“ lassen wir im – freilich sehr frischen – „Archiv“ der kleinen Küche Folgendes ausheben:
100jähriges Ei (schwarzer Reisessig, Chiliöl, Ingwer, Koriander)
Pikanter Schweinsohrensalat
Scharfer Kuttelsalat mit Lauch
Chinesisches Fladenbrot (Lardo, Grammeln, Jungzwiebel)
Jiaozi (Fleischvariante)
Ganbian Fisolen (Salzgemüse, Sichuanpfeffer, Ingwer und Knoblauch)
Mapu Tofu (Schweinsfaschiertes, Sichuanpfeffer, sehr scharf [war nicht so schlimm])
In Sojasauce geschmorten Schweinebauch (Bak Choy Gemüse)
Was mit Nudeln
Knusprige Ährenfische (Sichuanpfeffersalz)
Wokfried Oktopus asiatisch (pikant)
Leider habe ich keine Ahnung, wer dieser Wokfried ist, nach dem das letzte Gericht benannt ist. Auf die Hühnermägen verzichte ich, hatte heute ja schon, zumindest gedanklich, einen Magenstrudel. Von den knusprigen Ährenfischen lassen wir uns aber noch eine zweite Portion bringen. Sie passen wunderbar zum Andechser Bier und zum Frühroten Veltliner, der sich mitunter auf der ansehnlichen Weinkarte, anschließend auch auf meinem Gaumen findet.












BENOTUNG:
Geschmack: 5 von 5 Szechuanpfefferkörndl
Atmosphäre: 4 von 5 Streetfoodprints
Kulinarische Kakanizität: trotz Asiastyle immerhin 2 von 5 wegen der Innereien und den Typen
Soziokult: bobolonisch
Toilette: klein, aber fein
ZAHLTAG
Das alles ist nicht nur köstlich und abwechslungsreich, in einer familiären Atmosphäre, sondern – Überraschung – unterm Strich nicht viel teurer als ein mittelgroßes Sackerl voller Joseph Brot-Biohandsemmeln.
Der Abend endet komplementär mit einem großartigen Konzert der noch viel zu wenig bekannten AustoRock-Band Zoitog (neuhochdeutsch: Zahltag). Das böhmische Bier dort ist dann das Einzige, das noch an Bobostan erinnerte.

(c) F. Kührer-Wielach

F. Kührer-Wielach
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