Es ist ein kleines gastronomisches Imperium, das die Übergangszone zwischen Stadt und Weinbergen beherrscht: Das Weingut und der Heurige am Pfarrplatz, Mayer am Nussberg, das Rote Haus ebendort, der Pfarrwirt, auch am Pfarrplatz. Ein lokales Mayer-Imperium, quasi. So kann das nur in Wien heißen.

(c) F. Kührer-Wielach
Am Pfarrplatz kann man noch ein wenig die Vorort-Atmosphäre erfühlen, die hier einst geherrscht hatte. Außerdem dürfen wir, abgesehen vom Kirchenportal, zwischen zwei Türen wählen: der des Pfarrwirts und der des Heurigen.
HOS’NTÜRLKATZE LIGHT
Beim Wirten gibt es auf der Frühlingskarte ein angebliches Schmankerl der Kronländerküche: kein Kronfleisch und auch kein Kaiserfleisch, sondern ein „Altwiener Hosn’ntürlfleisch“ vulgo „Katzengschroa“.
Unter zweiterer Bezeichnung kennt man es besser. Das gab es (und gibt es manchmal noch) in Oberösterreich und angrenzenden Regionen und wurde an Schlachttagen gekocht: eine Mischung aus Stichfleisch und Innereien, die nicht in die Wurst kamen. Warum das Gericht in Wien Hos’ntürlfleisch und auf dem Lande Katzengeschrei genannt wird? Dazu darf sich jeder selbst eine Geschichte ausdenken.
Der Pfarrwirt verzichtet auf die Innereinen und macht seine Hos’ntürlkatze mit Kalb, Schwein und Ochsen. Das ist sicher ganz gut, aber halt doch ein bissl unsportlich. Schade, aber man will wohl die Touristen nicht verschrecken. Und auch die junge Generation der Döblinger Regimenter wird wahrscheinlich erst wieder auf Innereien umsteigen, wenn es die entsprechenden Derivate aus Seitan gibt.
ALSO DOCH ZUM HEURIGEN
Darum gehe ich durch das andere Türl, nämlich das des Mayer’schen Heurigenlokals im Beethovenhaus. Hier hatte der große Komponist einst eine Wohnung bezogen, in der Hoffnung, seine zunehmende Schwerhörigkeit zu heilen. Also in der nahegelegenen Kuranstalt, nicht ausschließlich mit dem Heiligenstädter Spritzwein.
Wir betreten einen wunderschönen, gepflegten Innenhof. Zwar wird Beethoven hier ordentlich ausgeschlachtet, letztlich spielts aber recht lautstark die eigentliche Wiener Klassik: Schön ist so ein Ringelspiel! / Das is a Hetz und kost net viel … (T: Peter Herz, M: Hermann Leopoldi, 1932) und Im Prater blüh‘n wieder die Bäume… (T: Kurt Robitschek, M: Robert Stolz, 1916).
Beide Behauptungen können wir hier in Döbling nicht verifizieren, aber wird schon stimmen. Die gute Nachricht: hier ist, wie wir beim Essen merken sollten, wohl nur die Musik aus der Konserve. Und selbst die wird am Abend von Live-Musik ersetzt.
Noch ist nicht viel los, der Heurigen ist bereit für den Sturm, der montags aber eher einem Frühlingslüfterl zu gleichen scheint. Sehr freundlich wird man hier behandelt vom altösterreichisch aufgestellten Personal.

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WIE AUF DER ALTEN ENTERPRISE
Die Damen von der Facility-Abteilung tragen Arbeitskittel in Rot, Blau und Dunkelgelb, ganz wie auf der alten Enterprise aus den 1960er-Jahren. Ich weiß also genau, welche Dame welche Aufgabe hat: die Rotgekleideten gehören zur Technik und zur Sicherheit, die Blauen widmen sich der Wissenschaft. Und gelb war einst Captain Kirk vorbehalten. Ich kann die Facility-Chefmanagerin also eindeutig identifizieren. So läuft das hier.
Wir bestellen ein Backhendl mit Erdapfelsalat und Preiselbeeren. Die Mitesserin soll Knödel mit Saft bekommen. Ich einen G’spritzten dazu.
Es kommen die ersten Gäste, mir scheint, großteils von weit her: Asien, Amerika, Simmering. Die Döblinger erkennt man, solange sie nicht den Mund aufmachen, am Hund.
PUTZI UND DER WIENER ZWIELAUT
Aus welcher Ecke Wiens das Pensionistendoppelpärchen stammt, kann ich nur schwer identifizieren. Man pflegt an diesem Tisch das raunzert Urwienerische, das stets so klingt, als würde in unmittelbarer zeitlicher Nähe eine Ohrfeige fallen. Und doch eigentlich nur kalmieren will. Mann will ja seine Ruhe.
Später werden sie sich gesegnete Mahlzeit wünschen, sehr verwirrend. Sievering oder Simmering, das ist hier die Frage. Indiz: Der Wiener Zwielaut, betont auf den ersten Vokal: Heeeeast.
So klingt auch der Putzi, der nicht tun will, was seine weniger putzige Frau sagt. Er hätte eigentlich im Auto sitzenbleiben sollen, während sie einkaufen gegangen ist, erfahre ich, ob ich es wissen will oder nicht. Leider hat der Mensch keine Ohrenlider, die er dezent verschließen kann, wenn der Ton ihn blendet.
UNTERTÖNE
Die Mitesserin, mittlerweile mit den Imitationsfähigkeiten eines Papageis ausgestatten, beginnt ebenfalls zu keppeln. Ich mache mir ein wenig Sorgen, dass der Vierertisch auf uns aufmerksam wird.
Nun dürfen die beiden Männer miteinander sprechen. Leise, gewiss. Die Gattin redet jetzt mit der anderen Frau, zu der ist sie nett. Doch selbst wenn sie von schönen Blumen erzählt, klingt das immer noch wie „Orschloch, I schmier da ane“. Nur vom Tonfall her, meine ich. Da ist immer etwas Passiv-Aggressives im urwienerischen Sound. Der sich mit den Schrammeln aus der Konserve vermischt. Meine Gedanken drehen sich noch einmal Richtung Beethoven und seiner Taubheit.
BOCHHENDLBLUES
Die Gattin teilt dem Putzi jedenfalls mit, dass er den Mund halten und bestellen soll. Eine Kunst, beide Aufträge gleichzeitig zu befolgen, denke ich mir. Putzi macht Vorschläge zur Güte: „A Bochhendl wa wos fia di, Schatzi.“ Putzi wird in dem Fall Recht behalten.
Wir haben einen Vorsprung, unsere Speisen werden bereits aufgetragen. Vor uns ein ordentlich paniertes und ausgebackenes Hendl, fast frivol, wie es da vor mir liegt, nur mit frittierter Petersilie notdürftig bedeckt. In der Leber steckt ein Fähnchen, das die Leber als solche markiert. Eine feine Idee, die Speisen mit didaktischen Gimmicks auszustatten. Möglicherweise sind hier öfters Studenten der Veterinärmedizin zu Gast.
Der Erdapfelsalat ist meiner Meinung nach eine kleine Sensation. Merklich ganz frisch, noch lauwarm, mit der typischen Wiener Marinade, in der Suppe und Zucker nicht fehlen dürfen. Die freundliche Kellnerin bringt uns die Serviettenknödel der Mitesserin. Die liegen in einem bewusst für die Kleine milden Jus, aber mit einer Tiefe, die von ordentlichem Handwerk zeigt.

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BENOTUNG:
Geschmack: 4,5 von 5 Gabeln mit Holzgriff
Atmosphäre: 4 von 5 Hörrohre
Kulinarische Kakanizität: 6,5 von 5 Schrammelknödel
Soziokult: babylonisch, von Tokio bis Tokiostraße
Toilette: schön, mit Wickelraum und Beethoven im Spiegel
Beim socio-medialen Bullshit-Bingo würden man schreiben: hier wird achtsam und wertschätzend gekocht. Ich schreibe: da kochen Menschen mit kulinarischem Ehrgefühl. Für einen Moment überlege ich, ob ich die markierte Leber vor das Pfarrwirt-Türl lege, zur mutigen Verwendung im Neuwiener Hos‘ntürlfleisch. Ich esse sie aber lieber selber.
FOODSHARING
Wir teilen uns letztlich das Essen, sie mag das Hendl und den Salat so gern wie ich die Knödel mit Saft. Nur die Petersilie verweigert sie, trotz Veredelung im heißen Öl.
Drüben bei den Simmering-Sieveringern wird nun auch das Essen aufgetragen. Es wird kurz ruhig. Es schmeckt wohl. Nur der Toast zu seinem Beef Tartar sei zu weiß, meint der Putzi. Dann möge er es reklamieren, meint die Gattin. Und als gelernte Wiener wissen wir, was jetzt folgt: nix.
Sie findet ihren Salat sehr gut, erfahren wir über die Tische hinweg. Es klingt trotzdem wie „oasch“. „Loss de Leit essn jetzt“, sagt der Putzi. Meiner Wahrnehmung nach waren das seine letzten Worte, zumindest für dieses Mittagessen.
DEUTSCH-SEIN IN BABYLON
Hier hat man sich etwas überlegt für die Kinder: Indoor- und Outdoor-Spielplätze gibt es wie Trauben auf dem Weinstock. (Also eigentlich hat man sich was für die Eltern ausgedacht.) Die Mitesserin bleibt aber die meiste Zeit bei mir sitzen. Immerhin hat sie mittlerweile das Zuprosten gelernt.
In diesem Sprachgewirr babylonischen Ausmaßes plagen sich traditionell die Freunde aus Deutschland am meisten. Wir werden Ohrenzeugen eines solchen typischen Interferenzproblems, angesiedelt zwischen Sprache und Kultur:
Deutscher Mann: „Was ist der trockenste Gemischte Satz, den sie haben“.
Kellnerin: [zeigt auf die Karte] „dieser“.
Deutscher Mann: „Ist der wirklich trocken?“
Kellnerin: „Trockener als der andere“ [meint: ‚Gemischter Satz immer trocken‘]
Deutscher Mann: „Für mich dann nur einen Salat.“
Kellnerin: „Gebäck dazu“
Deutscher Mann: „Ja, so n Brot halt.“
Kellnerin: [denkt: ‚Oida‘]
Deutsche Frau: „Ein Beef Tartar in der Vorspeisengröße, bütte.“
Kellnerin: „Als Hauptgang?“
Deutsche Frau: „Nee, Vorspeise.“
Kellnerin: „Und als Hauptgang dann?“
Deutsche Frau: „Nüschtsch“.
… die Engerl auf Urlaub in Wien … höre ich im Hintergrund, zwischen Schrammeln und Ringelspiel verstecken sich offenbar weinselige Gedichte in der Konserve. Nüschtern will man da eigentlich nicht sein. Trotzdem verschmähe ich den Spritzwein mit Limoncello.
EIN JAHR BEIM HEURIGEN
Auf musikalischer Ebene blühen schon wieder die Bäume im Prater. Haben wir jetzt tatsächlich ein ganzes Jahr beim Heurigen verbracht? Es gibt Schlimmeres.
So wie es auch Schlimmeres gibt, als sich als Heurigen mit allen Wiener Klischees der Welt einzudecken: also mit dem Bonner Komponisten, den Waldviertler Schrammeln und dem postjugoslawischen Personal. Wenn Service, Küche und Ambiente passen und das passt hier alles wunderbar.
Es ist Zeit zu gehen. Wenn man vor dem Türl steht, den schönen Pfarrplatz betritt, kann man sich entscheiden, in welche Richtung der Weg führen soll: Richtung Kahlenberg oder Richtung Karl-Marx-Hof. Aber das ist eine andere Geschichte.
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