DIE MITTE


seiten von florian kührer-wielach

Ballsaison an der HEJ! Maria Straße (mit Elchtest) // StrollingKin #10

Vor dem Museumsquartier spielt einer Boule, ganz für sich allein wirft er eine Kugel nach der anderen. In der linken Hand hält er einen Magnetheber, so braucht er sich nicht zu bücken, um die verworfenen Kugeln wieder aufzuheben. Wäre der Magnet etwas stärker, müsste er sich nicht einmal mehr zu den weiter entfernt liegenden Kugeln bewegen, um sie aufzuheben, denke ich mir.

Bällchen-Elchtest im Möbelhaus
(c) F. Kührer-Wielach

JOSEF AUF DEM SCOOTER

Unser Weg führt uns die Mariahilfer Straße hinauf. Diese scheint, entweder nach Wetterlage oder politischer Konjunktur, circa alle 100 Meter ihren verkehrstechnischen Aggregatzustand zu wechseln: Gehsteig, Fahrbahn, Radstreifen, Fußgängerzone, Begegnungszone.

Ob des Kaisers Kutsche sich auch an die 20 km/h-Beschränkung gehalten hätte, damals, als sie noch Kremser Straße und dann Bayerische Landstraße hieß? Ich bin mir sicher, Joseph II. hätte einen eScooter genommen, um den Weg zwischen Hofburg und Schönbrunn zurückzulegen.

BEGEGNUNGEN

Neben uns springt ein Mann wütend von einem Bein auf das andere, brüllt in einer mir unbekannten Sprache in sein Handy, umringt von mehreren Damen verschiedenen Alters, die offenbar zu ihm gehören. In der anderen Hand hält er ein zweites Mobiltelefon, mit dem er auf das erste einzuschlagen beginnt. Hier muss eine Begegnungszone sein.

Ich rolle unbeeindruckt weiter. Als ich mich 10 Sekunden später noch einmal umdrehe, hat sich die Gruppe in Nichts aufgelöst. Zwei Mönche vor mir, in blaublauem Habit. Sie wirken fröhlich, so wie mir Ordensleute oft begegnen: gelassen und heiter. Ob sie es trotz oder wegen der Mariahilfer Straße sind?

DUCK THE SYSTEM

Die Mahü ist halt voller Tauben und Typen. Gesichter, wie gemalt. Ich meine das wörtlich: in kräftigsten Farben, gerahmt von rosa Haarsträhnen, unter der mascarierten Augenpartie neuerdings zunehmend ein knallrot lackiertes Permanent-Duckface.

Reflexartig will man mit einem Antiallergikum aushelfen. Aber die Fertigspritze für’s Resting-Bitch-Face im Mick Jagger-Style gibt’s jetzt offenbar für jederfrau wohlfeil beim Interspar im Angebot.

LUEGERS GRÜNE BÄLLE

Auf dem Christian Broda-Platz, zu dem sich die Innere Mahü am Gürtel öffnet, könnte man solche Miniairbags im Gesicht durchaus brauchen. Denn bei seiner Überquerung, insbesondere mit Kinderwagen, läuft man ständig Gefahr, an einem städtebaulichen Gestaltungselement anzudonnern: an Säulen, Lampen, Lichtern, Betonbottichen, einem Metallschilfrohr oder einer steinernen Robbe. Der gemeine Wiener nennt das Areal richtigerweise Jachthafen oder Zahnstocherplatzl.

Wir überqueren den Gürtel Richtung Äußere Mariahilfer Straße, gehen an einem phallisch aufragenden Karl Lueger-Denkmal vorbei, das von zwei kugelförmigen Büschen flankiert wird. Der Stadtgärtner als Intimfriseur. Wer traut sich dieses Denkmal schief zu stellen?

ÜBER WIEN

Hinter dem Westbahnhof lugt der City-IKEA hervor als hätte er etwas angestellt. Wir fahren auf das Dach des Gebäudes, noch fast ein Geheimtipp. Dort oben gibt es eine offene Terrasse mit herrlichem Blick über Wien. Eine Oase der Ruhe, sogar mit Palmen, nur ohne Sand und mit Verkehrslärm.

Mit dem Möbelhaus ist es wie mit dem Tour Montparnasse in Paris: wer oben steht und runter schaut muss ihn nicht anschauen. Zugegebenermaßen ist der IKEA-Bau einer der gelungenen Bauten in der Umgebung, wie der Panoramablick mir rasch bestätigt.

CHEERLEEDERS MIT WARZE

Die Stadt verfügt in ihrem Kern über ein recht gleichmäßiges Höhenprofil. Mit ein paar Ausreißern. Da fällt aus der Sicht der IKEA-Terrasse vor allem ein nahegelegenes Hotelgebäude auf. Wie eine Warze erhebt es sich aus der Ziegelepidermis der Stadt. Ich wäre nicht überrascht, würde es, könnte es das, uns auch noch seinen blanken Hintern entgegenstrecken. Metaphorisch.

Schön ins Weichbild fügen sich hingegen im fernen Norden die Donauplatte und im ebenso fernen Süden die Hochhäuser des Wienerbergs. Für sie gilt ein architektonischer Cheerleadereffekt: von Weitem und in der Gruppe schauen sie ganz gut aus.

DIE WAHREN FLANEURE

Die Kleine jagt derweil abwechselnd ein welkes Blatt, das sich im Wind windet, und einen winterschwachen Käfer. Dann erregt ein Tschickstummel ihre Aufmerksamkeit. Er bewegt sich deutlich langsamer als der Käfer und das Blatt.

Kleine Kinder sind die wahren Flaneure, denke ich mir. Kein Ziel im Kopf, von Interesse ist, was vor die Augen kommt, kein Plan dahinter, kein Raum, den sie sich gezielt erschließen wollen. Von Affekt und Zufall gelenkt. Unguided. Flaneurismus à la bonne heure.

Während ich mir meine Gedanken zum Stadtstreichen mache, versucht die Mitesserin die Tschick zu verspeisen, wovon ich ihr aber abrate. Es wird Zeit für das Mittagessen. Wir fahren hinunter in den vierten Stock, wo der Möbelhändler sein Restaurant betreibt.

HEJ! MAHLZEIT

Wie offenbar immer um die Mittagszeit ist hier viel los. Hier lässt sich auch gut der Laptop aufklappen. In der Regel sind es aber Pärchen aller Nationen, Generationen und Geschlechter, die hier noch einmal die Gespräche wiederholen, die sie wenige Minuten zuvor vor einer Pax-Kommode oder einem Kunstpelzhaubenständer geführt haben.

Feel like home
(c) F. Kührer-Wielach

Es ist immer so: Sie erklärt wortreich und engagiert, warum man dieses und jenes Trumm unbedingt brauche. Und ihm ist es wurscht.

Die Mitesserin und ich entscheiden uns für ein komparatives Verfahren und ordern alle vier Varianten der Schwedenbällchen: klassische Köttbullar, Fleischlosbällchen, Gemüsebällchen und Geflügelbällchen. Die Mitesserin bekommt zusätzlich pickige Elchnudeln.

VERKOSTUNG: IKEA-HACKS

1. Köttbullar: schmecken wie eben Köttbullar bei IKEA seit 1985 schmecken, ganz in Ordnung, die Qualität ist ja stets die gleiche. Was ins Auge fällt, ist der hohe Grad an Verarbeitung, hier wurde alles sehr fein gecuttert, was dem Kugerl eine leicht schmierige Note verleiht. Es ist kein Fuzerl Grünes sichtbar, mit Kräutern haben es die Köttbullen also nicht so sehr. Dezent gewürzt. Die Idee, dass Fleisch nach Fleisch schmecken soll, ist respektabel. Freilich wünscht sich die österreichische Seele ein wenig Kümmel, wenn ein Schweindl und eine Kuh zur Kugel geformt wird.

2. Fleischlosbällchen: es fällt sofort der malzig-brotige Geschmack auf. Die Zunge wird an Falafel erinnert. Sichtbar werden kleine glasige Stücken, es sind wohl Zwiebel. Die Optik lässt an saftiges Brot denken. Trotzdem werden die Fleischlosbällchen ein wenig schneller trocken als die anderen. Dass das Ganze wie Fleisch schmeckt, ist eine Illusion, wie immer bei Ersatzprodukten. Und eigentlich muss es auch gar nicht wie Fleisch schmecken. Immerhin schmeckt es nach Fleisch.

3. Die Gemüsebällchen kommen ein wenig wie selbst gemacht daher. Auch die Konsistenz erinnert an die eigenen ersten Gehversuche, statt dem Fleischlaberl halt einmal etwas Vegetarisches zusammenzuschustern. Die Kleine mag sie ganz gern, weil sie so weich sind. Drinnen finden sich ganze Stücke vom Mais (also Körner, nicht Kolben), Erbsen, Paprikastückchen. Immerhin weiß man so, was mitunter drinnen ist. Leider ist dem als Koch gelesenen Schwedenbällchenfabrikanten beim Mischen der Gemüsebällchenmasse der Kurkumakübel ausgerutscht. Geschmacklich ist das ein wenig eigen, aber farblich und gesundheitlich natürlich ein Gewinn.

4. Zum Schluss verkosten wir die Geflügelbällchen. Ich mache mir ein wenig Sorgen, weil der Begriff Geflügel nicht genauer spezifiziert ist und denke an die Tauben auf der Mahü. Aber Hej!, was solls. Eigentlich behauptet IKEA, das auch das Geflügelbällchen vor allem nach Geflügel schmecken soll. Und doch scheint mit der Kyckling recht herzhaft gewürzt. Das Bällchen ist innen natürlich heller als die anderen, wieder feinst gecuttert und wieder keine Spur von Kräutern. Die Kleine mag das so, für das Geflügelkugerl spuckt sie sogar eine Elchnudel auf den Boden.

DIE BÄLLCHEN-PARABEL

Am Ende bleibt die Frage, welche der vier Bällchen-Sorten denn nun die beste sei. Zugegebenermaßen mag ich die klassischen Köttbullar schon ganz gerne. Und ab und zu ist auch ein Hendl etwas Feines, selbst wenn es verballhornt wird. Die Gemüse- und die Fleischlos-Varianten wiederum versprechen die Rettung der Welt, und das, ohne recht weite Wege gehen zu müssen, gleich im vierten Stock des City-IKEA am Europaplatz 1, mitten in Wien.

So ist auch die Bällchen-Frage keine Frage des Entweder-Oder, sondern eine der Verhältnismäßigkeit. Die Antwort ist also: 7 Köttbullar, 3 Fleischlosbällchen, 6 Gemüsebällchen und 4 Geflügelbällchen ergeben die perfekte Mischung für eine ordentliches Mittagsmahl. Dazu die obligate braune Sauce, Erdapfelpüree und Preiselbeermarmelade.

Langfristig erwarte ich mir freilich auch eine gebackene Variante: friterade köttbullar.

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