DIE MITTE


seiten von florian kührer-wielach

Der Einhornjäger aus dem Elfenbeinturm // StrollingKin #9

Heute besuchen wir einen Koch. Einen Koch, der angeblich das beste Rezept für Einhorngulasch kennt.

Nun gut, er selbst meint, es ginge ihm als Wissenschaftsbotschafter nur um die Frage, wie man ein solches Tier denn fange. Die Zubereitung fiele gar nicht in sein Metier. Selbst in der Theorie nicht.

Und eigentlich ist der Koch ein renommierter Historiker, konkret: Byzantinist. Er sagt, dass die Einhörner schon längst ausgestorben seien.

Aber sonst ist alles, was ich hier erzähle, wahr. Man braucht zur Bestätigung nur dem Einhornjäger zuzuhören, wenn er seinen Elfenbeinturm verlässt und seine im doppelten Sinne legendären Vorträge zum Thema mittelalterliche Fabelwesen hält.

SCHNITZELVIERTEL UND KAISERSCHMARRNCLUSTER

Wir nähern uns also dem historischen Universitätsviertel, in dem der Elfenbeinturm steht, über ein vielleicht noch historischeres Grätzl des Ersten Bezirks: über das Lugeck, also das Figlmüllerschnitzel-Viertel, links vorbei beim Gutenberg-Denkmal, hinein in die Köllnerhofgasse und weiter in die Grashofgasse.

An dieser Ecke hat sich offenbar ein kleiner Kaiserschmarrn-Cluster gebildet. Der ist mir aber im Moment egal. Denn ich stehe hier vor einem Durchgang zu einer anderen Welt. Die des Heiligenkreuzerhofs.

Der Heiligenkreuzerhof. S/W sehen auch die Auto schön aus
(c) F. Kührer-Wielach

DURCHGANG INS DURCHHAUS

Der Heiligenkreuzerhof hat mich immer schon fasziniert, denn hier atmet noch ein ganz altes Wien. Freilich atmet man hier auch mehr Abgase ein als erwartet, denn dieses in seinen Dimensionen und seiner eigentlichen Ruhe einmalige Ensemble ist dem klassischen Wiener natürlich vor allem eines: ein angenehmer Anrainerparkplatz.

Die Bewohner rund um diese traditionsreiche Ecke Wiens zeigen sich überhaupt sehr pragmatisch. Während es meiner Altwiener Phantasie gelingt, sich für einen Augenblick wie ein Hologramm über das Blechdosenpanorama zu legen, schleppen sie ihre Lidl-Sackerl durch den Hof. (Lidl! In der Innenstadt! Rest in Peace, Meinl am Graben.) Rauchen sich eine Tschick an oder stehen einfach herum. Die dürfen das, denn die wohnen oder arbeiten hier. Indigene.

DIE LEGENDE VOM LEBLOSEN HUND

Hier finden sich auch die Bernardikapelle, eine Montessori-Schule und eine Dependance der Universität für angewandte Kunst. Und nein, das ist nicht alles dasselbe.

Den Zugang zur Universitätsgalerie der Angewandten gefällt mir besonders gut. Es ist wie in der echten Welt: Jedes Durchhaus hat noch einen Hinterhof, wenngleich nicht immer so einen schönen wie diesen, mit Sandsteinfiguren versehenen. Die Steinputte rechts vom Tor wird mir sofort zur Lieblingsfigur: ein offenbar antikes Büblein, das seinem Hund die Nase zuhält.

Der Nasenzuhalter
(c) F. Kührer-Wielach

Die Statue erinnert mich an meinen Einzug in jene legendäre WG, die einst auch der Einhornjäger bewohnt hat. Er kam mir damals mit einem struppigen nassen Bündel entgegen, das ich für einen leblosen Hund hielt. Dramatische Momente.

Mein Schock aber hat sich schnell in Erleichterung gewandelt, als sich herausstellte, dass der Einhornjäger lediglich versucht hatte, den Fußabstreifer zu waschen.

Verendet ist an diesem Vorgang dann allerdings die Waschmaschine.

VORDENKER UND STÄNKERER

Zurück in den Heiligenkreuzerhof. Hier bleibt das Gefühl, obwohl in seinem Inneren sogar ein adrettes Lokal zu finden ist, in eine eigene, eher stille Welt eingedrungen zu sein, in der man wenig verloren hat.

Hier steht das wahrscheinlich älteste Zinshaus Wiens (eigentlich: dessen Nachfolger, denn wie immer hat sich das Barock über die Substanz gelegt). Darin haben, wie Gedenktafeln verraten, zwei der größten Persönlichkeiten gewohnt, die diese Stadt je beherbergen durfte: der große europäischen Vordenker Richard Coudenhove-Kalergi und den wahrscheinlich begabteste Stänkerer der Nation, Helmut Qualtinger.

Ich verlasse den Heiligenkreuzerhof auf seiner anderen Seite, ein Durchhaus also, wenn auch ein stilles, zugeparktes.

DER WIENER, EIN BASILISK

Hier in der Schönlaterngasse hat ein weiterer berühmter Wiener seinen Gedächtnisort: der Basilisk, der angeblich das Haus Nummer 7 bewohnt haben soll. Konkreter: den Brunnen darunter. (Heute wahrscheinlich als Parkgarage genutzt.)

Der Basilisk soll ein grantiges Mischwesen aus Gockel und Schlange sein. Ich frage mich, warum der in Wien überhaupt aufgefallen ist.

Die Legende besagt, dass ihn letzlich nur sein eigenes Spiegelbild aus den schuppigen Socken gehauen hat. Seine giftigen Dämpfe aber haben sich dann, wenn auch zum Glück nur in homöopathischen Dosen, für alle Zeiten auf den gemeinen Wiener übertragen.

Das Basiliskenhaus
(c) F. Kührer-Wielach

ALTWIEN FÜR ALLE SINNE

Es geht weiter durch ein Gassengewirr. Dagegen ist Harry Potters Winkelgasse eine Flugzeuglandebahn. Mit ein bisschen Phantasie lässt sich hier ein sinnliches Stück Vergangenheit heraufbeschwören.

Der beißende Gestank von Pferdepipi auf sonneheißem Pflaster zum Beispiel. Oder das rasselnde Gehuste der Schwindsüchtigen, das Jucken der Läusebisse, der Geschmack von ungesalzenem Hirsebrei … die gute alte Zeit halt, you know, ein Fest für alle Sinne.

SPIRITUELLE BEGEGNUNGEN

Weiter Richtung Elfenbeinturm. Eine junge Frau mit eckiger Sonnenbrille scheint sich vor ihrem Handy zu verbeugen, das sie auf einem Mauersims platziert hat. Appleprodukte lösen bei ihren Nutzern ja religiöse Gefühle aus, sagt eine Studie. Proskinese also? Tatsächlich macht sie nur Selfies.

Ich versuche mich im Fotobombing, rolle langsam mit dem Wagerl hinter ihr vorbei, schneide ein Gesicht. Ich bin sicher, mein Antlitz ist mittlerweile mittelberühmt, irgendwo in den Sozialen Medien in Mittelasien.

Junge, in bunte Jute und neonfarbene Trainingsanzüge ihrer Großväter gehüllte, mit Glöckchen behangene Menschen tanzen mir übers Pflaster entgegen. Hare Krischnas? Vielleicht hat das Holodeck-Programm eine Störung?

Nein, das ist keine weitere Episode meines ganz privaten Altwien-Films, es sind Studentinnen und Studenten der Angewandten. Ihre frohsinnige Präsenz zeigt mir an, dass ich mich dem Elfenbeinturm nähere.

In diesem residieren nämlich neuerdings nicht nur die Österreichische Akademie der Wissenschaften (und als ihr Teil der byzantinische Einhornjäger), sondern auch einige Abteilungen der Angewandten.

POST VON OTTO WAGNER

Am barrierefreien Eingang werde ich erwartet. Ich darf das Haus erkunden. Es handelt sich dabei, wie sicher längst erraten, um die ehemalige Postsparkassenzentrale, einer der herausragenden Jugendstilbauten des großen Otto Wagner, der den breiten Massen vor allem als Erfinder der Stadtbahnbögen in Erinnerung ist. (Wir verdanken ihm also auch eine Reihe ganz guter und mittelguter Gürtellokale.)

Es ist ein beeindruckendes Haus, repräsentativ, mit Patina überzogen. Vielleicht ist das aber auch nur der Baustellenstaub. Das einst in Staatsbesitz befindliche Objekt hat ja einen kleinen Umweg über einen bekannten ehemaligen Immobilienentwickler genommen, der die Post offenbar mit einem Kaufhof verwechselt hat. Jetzt dürfen sich die steuergeldfinanzierten Mietersmieter, weil wir ja alle auf Eigenverantwortung setzen, die Aufzüge selber einbauen.

Im immer noch prächtigen einstigen Postsparkassenkassenraum ist ein Café untergebracht. Hier gibt es in strahlendheller Tageslichtatmosphäre angewandte Mittagsteller, die man sich an den Schaltern abholen kann. Charmant.

Die ehemalige Kassenhalle der ehemaligen Postsparkasse ist heute ein Café
(c) F. Kührer-Wielach

Alles in allem: ein architektonisches Meisterwerk, mit zeitgemäßen Arbeitsbedingungen. Für einen Postsparkassenbeamten des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

IM EXPEDIT

Wir gehen gemeinsam mit dem Einhornjäger und seiner Einhornsammlerin ins Xpedit essen, ein Lokal gleich am Fuße des Elfenbeinturms. Die Optik ist lässig, tatsächlich wie ein italienisches Nudel- und Weinlager gestyled. Beziehungsweise wie sich ein Innenarchitekt sowas vorstellt.

Vor allem aber gibt es hier frische, hausgemachte Teigwaren, unprätentiös, handwerklich und geschmacklich ausgezeichnet. Wir bestellen uns einen Antipastiteller zuvor, danach diverse Nudelgerichte. Meine Freunde nehmen die Pasta giorno bzw. die Hausravioli.

Für mich gibt es die Pasta della casa con ragu. Dazu ein kleines Schremser Bier, dessen fassliche Präsenz am anderen Ende eines Zapfhahns ein untrügliches Qualitätsmerkmal für ein Lokal, welchen Typs auch immer, darstellt.

Das Xpedit
(c) F. Kührer-Wielach

TISCHGESPRÄCHE

Der Kellner hat offensichtlich selbst Kinder, er weiß, dass die Butterpenne für die Mitesserin schon mit der Vorspeise kommen müssen, um ein Drama abzuwenden. Der Kleinen mundet es offensichtlich.

Wir reden über die berührenden Begegnungen, die der Einhornjäger im Rahmen seiner Vorträge als Wissenschaftsbotschafter in Österreichs hat. Über großen Respekt vor der Wissenschaft, gerade dort wo man es nicht so sehr erwartet, es an allen Ecken und Enden an Ressourcen mangelt, weil es mit Lernschwachen keine medienwirksamen Bilder zu holen gibt.

Wir kommen zum Primat des Repräsentativen, das das Sinnvolle und Nötige stets von der Bühne drängt, über ungeeignete, aber teure und repräsentative Immobilien, und das Glück, trotz allem in der Forschung zu sein.

Ich vergesse die Frage, ob Byzantinisten auch für Basilisken zuständig sind. Und wie man die verarbeitet.

Die Basilisken.

GOLD GAB ICH FÜR GRÜNES

Unser erfreuliches Zusammensein wird auch nicht von der dezenten Präsenz einer führenden Politikerin der kleineren Regierungspartei getrübt. Zumal ich ihr gemeinsam mit ihrem oberösterreichischen, schwarztürkisen Pendant das große Verdienst relativer Koalitionsstabilität zuschreibe, eine völlig unterschätzte Aufgabe.

Freilich fährt mir dann doch der Schreck in die Glieder, als aus der Richtung der Nassräume eine weitere jener Partei angehörige Politikerin entgegenkommt, zu der mir jetzt und wahrscheinlich immerdar die gewogenen Worte fehlen.

Mich überkommt die Vermutung, dass vom WC ausgehend ein geheimer Gang in den entsprechenden Parlamentsclub führt. Als ich danach suche, finde ich nur eine goldfarben gestrichene Wand, die ein ebenso vergoldetes Krickerl (Rehgeweih) verschönt. Die beiden sind also vermutlich doch bei der Eingangstür reingekommen, die sie, getrennt voneinander, auch bald zur Ausgangstür machen.

KOSTEN: für 3,5 Personen in dieser Lage angemessen

BENOTUNG:

Geschmack: 4,5 von 5 Parmesanflocken
Atmosphäre: 5 von 5 Konzeptideen
Kulinarische Kakanizität: Mensch, darum geht’s hier nicht
Soziokult: Fabeltierexperten, Indigene, coolere Beamte, Angewandte mit Geld
Toilette: güldene Wand, ohne Geheimtür

LETZE FRAGEN

Auch wir verlassen das Xpedit. Es war ein erfreuliches Mahl: Essen, Atmosphäre, Service und nicht zuletzt die gute Gesellschaft, die sich zurück in den Elfenbeinturm begibt. Noch einmal schwört der Wissenschaftsbotschafter, dass er kein gutes Rezept für Einhorngulasch kennt. Ich werde ihm das erst glauben, wenn er mir das beweisen kann.

Wenn man die ehemaligen Postsparkasse über die zentrale Treppe verlässt, fällt der Blick auf das ehemalige k.u.k. Kriegsministerium mit seinem riesigen schwarzen Vogel auf dem Dach.

Ich drehe mich noch einmal um.

Fluglotsen?
(c) F. Kührer-Wielach

Auf dem Dach des Otto-Wagner-Baus stehen links und rechts zwei typische, untergewichtige Jugendstilelfen. Sie halten mit beiden Armen Kränze in die Höhe. Oder sind es Nuller? Luftlöcher? Ösen, um dicke Drahtseile einzuklinken und das Gebäude einfach wegzufliegen? Das geht doch heutzutage mit Beamen!

Wir rollen davon, den Ring entlang, am Hauptgebäude der Angewandten vorbei. Ein Backsteinbau. Bis wir zuhause sind, denke ich darüber nach, ob Einhornhorn aus Elfenbein besteht.

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