DIE MITTE


seiten von florian kührer-wielach

„Nach Wende und EU-Osterweiterung – die Wiedergeburt Mitteleuropas?“

Am 4. Mai 2023 habe ich auf Einladung der damaligen Beauftragten der Bay. Staatsregierung für Aussiedler und Vertriebene, Sylvia Stierstorfer, MdL, im Rahmen des „Mitteleuropatages“ über historische und aktuelle Perspektiven auf Kozepte und Ideen zu Mitteleuropa seit dem Ersten Wektkrieg gesprochen. Das Thema war und ist, zumal unter den aktuellen geopolitischen Vorzeichen, sowohl inspirierend wie dringend und wird weiterhin auf meiner Agenda stehen, wovon auch DIEMITTE.online zeugt. Hier der damalige Vortrag zum Nachlesen.

„Während ich dieses schreibe, wird im Osten und Westen gekämpft. Absichtlich schreibe ich mitten im Krieg, denn nur im Krieg sind die Gemüter bereit, große umgestaltende Gedanken in sich aufzunehmen. Nach dem Krieg kommt dann sehr bald die Alltagsseele wieder aus ihrem Versteck heraus, und mit der Alltagsseele lässt sich Mitteleuropa nicht machen.“

So begann Friedrich Naumann sein 1915 erschienenes Buch „Mitteleuropa“, das schnell zur weit über Deutschland hinaus rezipierten Kriegszielschrift des Deutschen Reiches wurde. Es war getrieben von der Überzeugung, dass nur der Zusammenschluss des Deutschen Reiches mit Österreich-Ungarn jene Kraft entwickeln könne, die sich gleichermaßen vom englisch-französische Bund wie vom russischen Reich abgegrenzt. Das als großdeutsches Reich wieder die Mitte Europas dominieren könne.

Die Nicht-Deutschen Völker in diesem Raum sollten in diesem wiedererstandenen Heiligen Römischen Reich deutscher Nation ihren Platz finden. Von diesem im Kern germanischen Imperium gleichsam väterlich an der Hand genommen werden.

Immerhin, bei Naumann war der Telos ein wirtschaftspolitischer, kein kriegerischer, die Grundhaltung zivilisatorisch, vergleichsweise liberal. Und doch lässt sich beobachten, was uns die Jahrzehnte nach dem Ersten Weltkrieg in extremis weiterhin begleiten wird: pangermanische Ideen, gepaart mit einem Unverständnis darüber, wie die Gesellschaften im östlichen Teil der Mitte Europas funktionieren, wo Sprachen, Konfessionen, Kulturen zusammenleben,  mit einer eigenen inneren Logik, eine Kleinteiligkeit und Vielfalt, die sich dem Blick zentralistischer, auf dem Reißbrett oder am grünen Tisch verhandelter Ordnungskonzepte radikal entzieht.

*

Mitteleuropa-Tag im Konferenzsaal im Bayerischen Landtag am 4. Mai 2023
(c) Andreas Otto Weber

Bekanntlich kam es anders: Deutschland litt, als Weimarer Republik, an den in Versailles beschlossenen Verlusten seiner Ostgebiete, war zum Nationalstaat geworden, der sich für ein Imperium hielt. Österreich-Ungarn zerfiel in eine Reihe von Nationalitätenstaaten, die sich für Nationalstaaten hielten. Wer Mitteleuropa sagte, meinte diese Verluste immer mit.

Es war der Moment, in dem sich viele Gruppen – Deutsche, Juden, Ungarn und andere – in neuen Vaterländern wiederfanden. So war das auch der Moment, in dem – wieder unter deutscher Führung – der moderne Minderheitenschutz erfunden wurde.

*

Es gibt aber auch die andere Perspektive: jene der sogenannten kleinen Völker, die nun aus den österreichischen, der ungarländischen und der deutschländischen Verlustgebiete ihre Nationen verstaatlichten, um zwischen den großen Mächten, Deutschland und Russland, bestehen zu können. Die Tschechoslowakei und Jugoslawien entstanden, Polen und die baltischen Staaten erschienen wieder auf der Landkarte, das junge, kleine Rumänien wuchs auf das doppelte an.

Dementsprechend kamen im und nach dem Ersten Weltkrieg neue Mitteleuropa-Konzepte auf, die das existenzielle „Dazwischen“ der kleinen Staaten zwischen Deutschland und Russland absichern sollten: beispielsweise die Intermarium-Idee des polnischen Marschall Józef Piłsudski, derzufolge eine „zwischeneuropäische“ Staaten-Konföderation von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reichen sollte.

Als maßgebliches Werk, als effektive Gegenschrift zum deutsch dominierten „Mitteleuropa“ kann aber vor allem Tomas Masarkys Buch „Das neue Europa. Der slawische Standpunkt“ gelesen werden, das er 1917 in Sankt Petersburger Exil geschrieben hat. Er diagnostizierte Preußen und Österreich einen historischen „Drang nach Osten“, der sich in der deutschen Kolonialisierung einer „Kleinvölker-Zone“ im östlichen und südöstlichen Europa realisiert habe. Nun aber schien Masaryk die Zeit der Demokratien und Republiken gekommen, das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ wurde zum Mantra. Dass kein Staat in Mitteleuropa einheitlich-national sein konnte, war ihm aber bewusst. So erschien es ihm wichtig, ein Auskommen mit den Deutschen in der Tschechoslowakei zu finden. Das Sagen aber sollte die größte Gruppe im Staat haben.

Es war ironischerweise das verhältnismäßig liberale Habsburg-Regime, das es den kleinen Nationen unter ihrer Herrschaft ermöglicht hatte, sich historisch zu finden bzw. zu erfinden: Während das Ukrainische im Zarenreich verboten war, konnte sich in den habsburgischen Teilen ein ruthenisches, also ukrainisches Nationalbewusstsein herausbilden, so wie dies auch anderen „kleinen“ Gruppen möglich war. Deswegen scheiterte die Errichtung eines ukrainischen Staates damals nicht am Mangel nationalen und mitteleuropäischen Bewusstseins, sondern am Zugriff des im Entstehen begriffenen Sowjetreiches.

Mitteleuropa war und blieb also ein wandelbarer Begriff: im österreichischen Diskurs als virtueller Ersatz für den Donauraum, im deutschen, um das Wort „Reich“ zu camouflieren, im neuen „Zwischeneuropa“, das als Ostmitteleuropa weiter existiert, zum Selbstschutz vor den Mächten in Ost und West.

Stets dominierte aber das Nationale und stets nationalisierte das Dominante.

*

Die Minderheiten wurden so noch schneller in die Arme ihrer revisionistischen Mutterländer getrieben, allen voran Deutschland und seine sogenannten Volksdeutschen, sie wurden zu Faustpfändern, Brückenköpfen und dritten Kolonnen.

Sie wurden, ob sie es wollten oder nicht, zu Geburtshelfern eines neuen mitteleuropäischen Reiches, das Dritte „deutsche“, in dem bloß der Gruß ein römischer und gar nichts heilig war.

Der Traum eines mächtigen Mitteleuropas nun Realität geworden und glich doch eher einem Alptraum. Und so endete er auch: im Weltkrieg, in der Ermordung von Juden, Roma und Sinti und anderer „Eigen-sinniger“, in Flucht, Vertreibung und Deportation von Millionen Deutschen, Polen und weiteren, die einen als kollektive Vergeltung, die anderen aus Stalins territorialem Kalkül.

Der Eiserne Vorhang senkte sich über Europa. Falls bis zu diesem Moment ein Mitteleuropa existiert hatte, wurde es nun zwischen den beiden Blöcken von West und Ost aufgeteilt. Die Mitte Europas wurde zum doppelten Rand.

Kalter Krieg

In den ersten Jahrzehnten regte sich punktueller Widerstand gegen das Sowjetregime. Moskau ließ die Aufstände in den kommunistischen Vasallenstaaten niederschlagen. Die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 blieb besonders in Erinnerung. Doch ausgerechnet in jenem Jahr, in diese heiße und gleichzeitig bleierne Zeit hinein, erschien Ingeborg Bachmanns berühmtes Gedicht: „Böhmen liegt am Meer“, das sie vier Jahre zuvor während eines Aufenthalts in der tschechoslowakischen Hauptstadt an der Moldau verfasst hatte.

Sind hierorts Häuser grün, tret ich noch in ein Haus. /
Sind hier die Brücken heil, geh ich auf gutem Grund.

Sie dichtete sich eine Heimkehr, eine Heimkehr in ein altes Österreich. Doch hatte dieser Traum wenig mit Verklärung und Nostalgie zu tun: Böhmen am Meer, das war ein untergegangenes Atlantis maßvoll regulierter Koexistenz. Es steht für alle, die eine Heimat, ihre Sprache verloren haben.

Bachmanns Prager Gedichte nehmen den intellektuellen Aufbruch nach Mitteleuropa in der Spätphase des Kalten Krieges zu beiden Seiten des Eisernen Vorhangs vorweg.

So stellte der tschechische Schriftsteller Milan Kundera in seinem 1984 im Pariser Exil veröffentlichten, epochalen Essay „Un occident kidnappé oder die Tragödie Zentraleuropas“ unmissverständlich klar, dass er Ungarn, Tschechoslowakei und Polen als einen genuinen Teil des westlichen Europas sah. Nur wegen eines historischen Betriebsunfalls in die östliche Hälfte des Erdteils gerutscht seien, wo ihre Regime nun von Moskau aus dirigiert würden:

„Gerade am östlichsten Punkt des Westens wird Russland viel mehr als anderswo als Gegensatz zum Westen, als antiwestlich wahrgenommen; es erscheint eben nicht nur als eine europäische Macht unter anderen, sondern als eine ganz besondere, eine andere Zivilisation.“

Ohne Moskaus Unterstützung wären diese Regimes schon längst gestürzt. So gesehen seien die Ereignisse von Prag oder Warschau in ihrem Wesen nicht als Drama Osteuropas, des sowjetischen Blocks, des Kommunismus zu verstehen, sondern vielmehr als das Zentraleuropas.“

Beim ungarischen Schriftsteller György Konrad, der als Kind den Holocaust überlebt hatte, wurde dieses Drama zum Traum: „Ja, es gibt noch einen Traum von Mitteleuropa,“ schrieb er 1985. Dieser erfordere jedoch „Bildung, historische Einsicht und philosophische Unvoreingenommenheit“. Denn der mitteleuropäische Traum sei, im Gegensatz zum nationalen, kein massenkulturelles Phänomen. „… er ist romantisch und subversiv.“

Mitteleuropa schien als Wunschtraum zurückzukehren. In Wien riefen Erhard Busek und Emil Brix 1986 Mitteleuropa zum „Projekt“ aus:  „Behutsam“ würden die „Menschen in Prag, Krakau, Budapest, Laibach, Triest und Wien“ beginnen, „sich einander wieder zuzuwenden.“ Sie seien davon überzeugt, „dass Teile ihres historischen Bewusstseins nicht ohne Verlust für die eigene Existenz ausgeblendet bleiben“ könnten. Westmitteleuropa und Ostmitteleuropa begannen sich gegenseitig wiederzuentdecken, noch bevor die Blöcke zusammenbrechen sollten.

Erneut wird sichtbar: Kultur, Wirtschaft und Geopolitik können kaum sinnvoll nicht getrennt gedacht werden. Und vor allem: die deutschen Stimmen dominierten nicht mehr, sie fügten sich in einen vielsprachigen Chor einer noch zu komponierenden europäischen Symphonie der Hoffnung.

1989/1991

Nur wenige Jahre später sollte sich der Traum von einer Rückkehr in den Westen tatsächlich erfüllten. Der Eiserne Vorhang fällt. Ein ökonomischer Wandel beginnt, die Europäische Gemeinschaft wird zur wachsenden Union, zu den Ländern des klassischen Ostmitteleuropa kommen bald auch südosteuropäische dazu: Rumänien, Bulgarien, Kroatien. Fast alle anderen Länder des Balkans haben mittlerweile den Status eines EU-Beitrittskandidaten. Seit letztem Jahr auch die Ukraine, seit wenigen Wochen die Republik Moldau.

Der Kontinent wird zum Migrationsraum, erfährt seinen materiellen Aufstieg, freilich zu einem hohen Preis. Denn Europa ist nun voller Menschen, die entweder zurückgelassen wurden oder selbst wehmütig zurückblicken. Die Warteräume der Erinnerung und der Hoffnung füllen sich.

Und was jetzt?

Zeitenwende, aber nicht erst seit Februar 2022. Nur war der Krieg bis dahin zu weit weg, schien die Mitte Europas nicht zu betreffen. Die Balkankriege waren fast vergessen.

Heute ist uns klar: Trotz aller Warnungen unserer östlichen Mitmitteleuropäer sind wir wie die Schlafwandler in ökonomische und geopolitische Abhängigkeiten getaumelt. Wir müssen das Aufeinander Hören in der Mitte Europas besser üben. „Uns ist bewusst geworden, dass wir etwas zu sagen und beizutragen haben.“, meinte dazu der neue Tschechische Präsident Petr Pavel. „Aber dafür brauchen wir ein Gegenüber.“ Wer nimmt uns mit, kann uns übersetzen, vermitteln?

*

Die Welt wandelt sich nun unter Zwängen und Europa wandelt sich mit ihr. Der mitteleuropäische Mythos vom Bollwerk gegen Osten, diskreditiert nach seinem Missbrauch durch das totale Deutschland, kehrt zurück, nun als knallharter Topos, als geopolitische Dringlichkeit, der auch einen kulturellen Perspektivwechsel bewirkt.

In den Worten der ukrainischen Schriftstellerin Tanja Maljartschuk:  

„Die alten Vorstellungen über die Ukraine sind ungültig geworden. Der Rahmen und der Kontext, die diese Kultur ausmachen, sind nicht mehr postsowjetisch, sondern mitteleuropäisch.“

Europa bedeutet Schutz, Mitteleuropa kulturelle Heimat. Es fragt uns, im Angesicht des Krieges, nicht mehr, ob es existieren darf, es ist da, als wäre es nie weg gewesen.

Welches Mitteleuropa sehen wir also heute am Horizont?

Wir sehen ein Mitteleuropa, das sich angesichts einer realen Gefahr neu formt und Richtung Osten erweitert, das in seiner östlichen Hälfte sein historisches Bewusstsein hervorholt und ein zeitgenössisches Selbstbewusstsein entwickelt.

Wir sehen ein Mitteleuropa, das zur Ostgrenze des Westens wird. Nicht aus kolonialem Streben, nicht nur aus ökonomischen Interessen, sondern aus unmittelbarer, bitterer Erfahrung. Denn Mitteleuropa ist ein Produkt der Verhältnisse, der Grenzen, die wir selbst oder andere ziehen.

Mitteleuropa ist auch ein Angebot an alle, die es verstanden haben. Denn da gibt es auch ein anderes, auf den ersten Blick unsichtbares Mitteleuropa. Das als „geistig-kulturelles Prinzip“ Grenzen durchbricht.

Die lebensrettende Flucht nach Übersee und nach Israel, die Zwangsmigrationen am Kriegsende, die Aussiedlungen deutscher Gruppen, die Flucht der Dissidenten, die gerufenen und nicht gerufenen Arbeitsmigranten, die Virtualisierung der Kommunikation zwischen alten und neuen Heimaten – all dies macht Mitteleuropa auch zu einem lebendigen Netz aus Erinnerungen und Bezügen, die Europa und die Welt wie ein mycelium durchziehen: manchmal kaum zu übersehen, oft unsichtbar, aber immer präsent, sinnlich, subversiv eben, und romantisch: In der Doboschtorte in Jerusalem, in den deutschen Zeitungen hinter dem Ural, in den Oktoberfesten Entre Rios, in Yad Vashem, in Verdun und in Odessa.

Das mitteleuropäische Mycelium wächst nicht nur in der Fläche, sondern auch in Schichten, ganz wie die Doboschtorte: blicken wir ins ukrainische  Tscherniwzi, sehen wir eine genuin habsburgische Bausubstanz. Wir sehen Czernowitz. Wir sehen aber auch die realsozialistischen Bauten rundherum, wir sehen Menschen, die aus ganz anderen Landesteilen hierhergezogen sind, wir sehen mittlerweile wieder das jüdische Erbe der Stadt, wir übersehen gerne die rumänischen Komponenten oder gar die Spuren, die die Bukowina und ihre Hauptstadt aus der vorhabsburgischen Zeit aufweisen, als sie zum Fürstentum Moldau gehörten. Ganz ähnlich verhält es sich mit Prag, mit Krakau oder Zagreb: jeder sieht, was er will, nur im Dialog wird das Bild größer und facettenreicher, sagen wir: mitteleuropäischer.

Und es geht um mehr, um vieles, das uns im Westen (noch) selbstverständlich erscheint: um Aufstieg, um Kultur, um Demokratie, um Aufklärung, um die Freiheit, die Möglichkeit, seine Lebenswelten eigen-artig zu gestalten, wie sie Mitteleuropa in seinen besten Zeiten verheißen hat.

*

Mitteleuropa ist Kultur und Geopolitik, Schutz und Chimäre, Lebensart und Lebenswelt, Heimat der Mutter und Heimat der Mörder, Erinnerung, Gegenwart und Zukunft. Doch Mitteleuropa ist kein Phönix, der aus seiner Asche wiedergeboren wird. Mitteleuropa ist latent und akut, romantisch und subversiv, manifest und doch kaum zu fassen. Mitteleuropa ist Arbeit.

Denn wer einst Czernowitz sagte, muss heute auch Kiew und Charkiw sagen, wer Bratislava sagt, darf es auch Preßburg nennen. Und wer an Krakau denkt, denkt Warschau mit, und wird auch Pristina und Chișinau meinen.

Dann, ja dann, wird auch die Moldau wieder am Meer liegen.


Programm des Mitteleuropatages (4. Mai 2023)

#mitteleuropa
#bayerischerlandtag

Hinterlasse einen Kommentar